Die Haut ist erblasst. Die Augen gereizt, aber bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Zum Glück ist es morgens um 7 Uhr noch schwarze Nacht. Noch voller Energie starten wir euphorisch in den Tag. Auf dem Programm stehen kriminelle Gangs in Mexiko, Berlin und New Mexico. Den Beginn macht Rachid Boucharebs ruhiges Thriller-Drama „Two Men in Town“ (Kilian sah ihn bereits den Tag zuvor). Forest Whitaker ist gerade auf Bewährung aus dem Gefängnis gekommen und möchte ein neues Leben beginnen. Auf dem Land? Hier kann niemand vergessen, was er getan hat. Gesellschafts- und Politikkritik lassen keine Aspekte und Stereotype aus und stürzen unsere Autoren in eine polarisierende Zwietracht.

Apropos Tracht. Der kleine Jack kommt nicht aus München, aber aus Berlin. Er ist gerademal zehn Jahre alt, dennoch erwachsener als seine eigene Mutter. Sie hängt lieber mit ihren Freunden rum und vögelt sich durch die Hauptstadt. „Alle haben ’nen Job, ich hab’ Langweile. Keiner hat mehr Lust auf Kiffen, Saufen, Feiern“, würde Marteria an dieser Stelle sagen. Nicht bei „Jack“ von Edward Berger. Er taumelt mit seinem jüngeren Bruder Manuel durch die Berliner Szene. Ein Generationenbild jenseits von Faulheit und Infantilität. Ein angekratzter Spiegel ohne Moralhammer. Aber mit viel Gefühl und Ehrlichkeit wird eine Kindheit ohne Kindheit erzählt. Im Süden Mexikos gibt es ganz andere Probleme. Keine Jobs, keine Kohle und nicht mal was zum Kiffen. Aber dafür ist der Gang-Alltag ganz normal. Sie bestimmen und kontrollieren das Dorf. Der Regisseur Damian John Harper begleitet in „Los Ángeles“ alte Freunde und inszeniert Versionen von ihnen im Doku-Stil. Lange Szenen, kurzer Prozess. In absolut groben Bildern, intimen Perspektiven und ausgewaschenen Farben kann man sich in die fremde Welt der Zapoteken einfinden. Ein emotionsgeladener Tag ist vorbei, in dem die deutschen Filmemacher ihre internationalen Kollegen übertrumpft haben.

Der nächste Tag beginnt um 5:15 Uhr. Man rollt sich aus dem Bett, wankelt zur U-Bahn und gesellt sich am Ticketschalter zu den anderen halb toten Gestalten. Bei gefühlten -20 Grad wäre man um diese Uhrzeit gerne an einem Sonntag woanders. Nach nur zwei Stunden warten, kann man dann auch (hoffentlich!) seine Wunschtickets in Empfang nehmen. Schnelles Croissant, kurzer Kaffee und ab zu „Monuments Men – Ungewöhnliche Helden“ in den wunderbaren Zoo Palast. Bequemlichkeit wird dort sehr groß geschrieben. Es ist 9:30 Uhr. Der erste Film beginnt. In den weichen Luxus-Ledersesseln können wir George Clooney dabei beobachten, wie er mit seiner Künstlerband die Nazis von ihrem Raubfeldzug abhält. „Oceans Eleven“ sucht „Soldat James Ryan“. Team USA hisst die Flagge und jeder ist glücklich.

Koffeinspritze ins zentrale Nervensystem. Und weiter geht’s. Die U-Bahn bringt uns zurück zum Berlinale-Geschehen auf dem Potsdamer Platz. Doku-Zeit. Michel Gondry trifft Noam Chomsky in „Is the Man Who Is Tall Happy?“ und malt sich aus, wie einer der angesehensten Linguisten unserer Zeit über Gott und die Welt spricht. Descartes, den Tod seiner Frau. Extrem speziell, dennoch interessant. Mit dem ständigen französischen Akzent des Regisseurs im Ohr. Ein kindlich-verspieltes Vergnügen. Mittagessen. Neue Energie. Man sammelt Karmapunkte und stellt sich zum bereits vierten Male für diesen Tag irgendwo an, wo ganz viele andere Menschen auch sind und das gleiche tun. „Last Hijack“ ist der letzte Film für heute und führt uns an die Küste Somalias. Aktuelles Thema: Piraten, Panzerfäuste, Plündern. Tommy Pallotta und Femke Wolting begleiten einen drogenabhängigen Ex- und Bald-Wieder-Piraten bei seinem Alltag und illustrieren dabei seine Erinnerungen.

Besprechungen im Überblick

Snowpiercer (Ausführliche Kritik folgt)

„Snowpiercer“ wurde als intelligentes Actiondrama gehandelt, das für die amerikanischen Bürger laut Produzent Harvey Weinstein zu anspruchsvoll sei. Dieses Kompliment ist insofern nicht nachvollziehbar, als dass aus einer vom Prinzip her interessanten Grundstory kein konsequentes Netzwerk an blühenden Verzweigungen entsteht. Bong Joon-hos Film verläuft sich in einem unpassenden Kontrast aus expliziter Gewalt und grotesker, eher lächerlich, als lustig wirkender Überzogenheit. Das ist schade, sollte eine Dystopie doch durchgängig ernstzunehmen sein und auf Crowdpleasing verzichten, wie es „1984“ und „Brazil“ schon vorgemacht haben. Dass John Hurt als veraltender Guru der revolutionären Armen den Namen Gilliam erhält, ist dann auch nicht weiter verwunderlich. Bildgewaltig und vorbildlich choreographiert bedient die koreanische Post-Apokalypse den gewöhnlichen Actionliebhaber, scheitert aber daran, ein Aushängeschild für anspruchsvolles Actionkino zu werden.

Monuments Men – Ungewöhnliche Helden

Irgendwie muss man den Nazis Einhalt gebieten. Ihr radikaler Raubzug durch die Kunst und Kultur Europas soll von Frank Stokes (George Clooney) und einer erlesenen Auswahl betagter Kunstkenner gestoppt werden. Aber vor allem sollen die Schätze der Vergangenheit vor der Zerstörung gewahrt und den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben werden. Regisseur und Drehbuchautor Clooney wählt ein heikles Genre aus Kriegsdrama und Buddykomödie. Dass sich diese beiden Aspekte zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen, ist nur selten der Fall. Abgedroschene Witze und klassisch überhöhter Patriotismus helfen „Monuments Men – Ungewöhnliche Helden“ auch nicht weiter. Die wahre Geschichte um die Monuments Men lässt dabei für den Zuschauer noch eine Frage offen: „Ist ein Kunstwerk mehr wert als ein Menschenleben?“

Is the Man Who is Tall Happy?

Michel Gondry visualisiert die Worte des großen Denkers Noam Chomsky. In dem Interviewfilm „Is the Man Who is Tall Happy?“ schwelgen Gondry und Chomsky gemeinsam in Erinnerungen. Sie sprechen über Philosophie, Antisemitismus und Familie. Ungeheuer speziell. Aber wenn man sich darauf einlassen kann, höchst spannend und eindrucksvoll. In naiv-kindlichen Animationen dekonstruiert Gondry die komplizierten Gedanken Chomskys. Wunderbar anschaulich und kurzweilig. Einen besonderen Charme verleiht Gondry durch sein ständiges Kommentieren aus dem Off. Dadurch entsteht eine Selbstreflexivität mit einer französischen Färbung, die dem Ganzen eine Leichtigkeit verleiht. Schwere Kost hat selten so gut geschmeckt.

Meinungen

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Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.