Individualismus ist tot. Mausetot liegt er danieder auf Autobahnen, Spielplätzen, in Fellkostümen, Krematorien von Gedenkstätten und dem Urwald deutschen Einsiedlertums. Höchstens noch auf dem mittäglichen Brötchen mit Gesichtswurst sieht er uns empfänglich entgegen. Doch auch dort plastische Ironie: Senfgeformte Haare umrahmen Augen aus M&Ms und einen Himbeermarmeladenbart. Offensichtlich hobelt da jemand mit jeder abgewetzten Hautpartie, mit jedem Subtext unter dem Subtext weiter das scheinbare Allgemeingut frei, in welchem wir uns nachdrücklich gefangen sehen und einem imaginären Zwang unterstehen. Dem Zwang namens Deutschland, einer gar höchst ansteckenden und schwer zu kurierenden Krankheit, einer Seuche inmitten von Präzision, Vergangenheitsvehikeln und Fußpflegeprodukten. Frauke Finsterwalder und Christian Kracht sezieren im Drehbuch zu „Finsterworld“ kurzum das typisch Deutsche.

Man wird geboren, und dann ist man ein Kind und neugierig auf alles. Und je älter man wird, desto mehr Enttäuschungen erlebt man und man verschließt sich, wird immer gefühlloser, abgebrühter, unbeteiligter und lebloser. […] Das ist wie tot sein. Nur dass man noch atmet.

Dominik

Der eigentliche Mittelfinger deutscher Gepflogenheiten entpuppt sich als gesteuerter Schuss in den Magen. Nicht die Prototypen verenden jedoch an ihren inneren Blutungen, sondern uns verlässt das Blut, das Blut in den Adern nur, denn das im Herzen sah seine Rettung ohnehin früher im Hinscheiden. In „Finsterworld“ mangelt es an gebrochenen Herzen und falscher Liebe (obwohl es auch dort eine „richtige“ gibt), an Wärme, Geborgenheit, dem Wert eines Kusses, einer Umarmung. Stattdessen schlagen Körper aufeinander, führen sie denn überhaupt Intimitäten aus. Wenn das kein dritter Weltkrieg sein könnte, ein vierter wäre es wohl. Inmitten der Bourgeoisie steht Maximilian, der gelackte und gestriegelte Blonde auf dem Schulausflug zum Konzentrationslager, als Kind von Inga und Georg Sandberg und vielleicht sogar treffender: der Schallisolierung. Die Handlung sammelt sich um ihn, seine Narrheit und Ignoranz. Am Ende jubiliert er – und ein Zufall ist es kaum; es mag mehr das Vermächtnis dieser präzisen und trotzdem weltfremden Wortgefechte sein, dieser Hülsen, die Christian Kracht als Schweizer wie Andere nur schwerlich in ein mechanisch subtiles Deutsch verpackt. Nur ist die Mechanik leider urkomische Wahrheit.

Indem Finsterwalder und Kracht das urdeutsche Befindlichkeitskarussell aus Vorurteilen und elender Vergangenheitswiederkäuerei karikieren, fangen sie gleichsam ein streng portioniertes Gefüge in einem bürgerlichen Trauerspiel ein. Der Durchschnittsdeutsche tritt in dem sachlichen Kalkül des Drehbuchs sowohl in der Persiflage Inga auf, als auch in dem nur scheinbaren Gutmenschen – dem Fußpfleger Claude, der seine Kekse mit einer höchst exklusiven Zutat anreichert. Der Schein also ist verdorben. Doch auch im Sein verstehen die Autoren ebenso nur Borniertheit, Lügenstränge sich selbst und anderen gegenüber, bis zu einem kosmischen Geflecht aller potenziellen Weltverbesserer. Von diesen allerdings überlebt kein einziger in Freiheit – plumpe, öde Welt. In der Rhetorik entdecken und decken nun wir das kurzatmige Schnaufen durch Exkremente und Staubpartikel des Wohlstands. Beinahe ist es ein lyrisches Drehbuch der penibel immer und immer wieder abgeschabten Hornhaut, welches mit jedem Schachzug aus Krachts literarischem Repertoire nur noch ins Fleisch schneidet. Es blutet heftig, aber keine Gerinnung will einsetzen.

Es ist schlimm genug, in einem Land leben zu müssen, in dem keiner Hunger leidet und alle eine Krankenversicherung haben und alles schallisoliert ist.

Georg Sandberg

Eine Identität Deutschlands, eine Identität des Deutschen, eines Volksprimus verliert sich in den Händen Krachts, doch wird gleichzeitig niemals vollständig ausgeführt. Nicht jedoch aus einer Angst heraus, sondern dem unbedingten Drang eines Schwebezustandes, der diesen Charakteren eine noch hilflosere Position verleiht. In Kombination mit Finsterwalder kehrt Kracht den Konflikt um die Existenz Gottes dennoch um. Zwar führt der Glaube an eine höhere Macht auch hier zu einer tragischen Schlüsselsequenz, doch gerade in jener toben die einzigen Gutmenschen und scheitern infolge an unkontrollierbaren Verwicklungen. Die nietzscheanische Theorie, es gäbe keinen Gott, verschränkt Kracht sogar mit der gesellschaftlichen Distanz, welche dem Glauben entgegenschlägt. Gott existiert in „Finsterworld“. Aber auch: Gott existiert nicht, da unser Empfinden von einem Schicksal, welches uns leitet, auf dem Irrglauben basiert, unsere Fehler würden nicht auf uns zurückgeworfen, weil wir unser Schicksal nicht mehr steuern können. Schließlich ist es schon vorgegeben. Diese Intention schmücken Finsterwalder und Kracht als Fragestellung, die geradezu bedächtig und seltsam geschliffen verbleibt. Gleichzeitig markiert diese Sorgsamkeit im Rhetorischen eine enorme Perfidie.

Absurd erscheint in diesem Zusammenhang auch die seit Krachts Debüt „Faserland“ immer wieder betitelte Identifikationslosigkeit, welche in „Finsterworld“ in ein ausgefeiltes Produkt seiner beiden Autoren umschlägt. Jeder Charakter bildet eine Projektionsebene aus, jeder einen mutmaßlichen Avatar seiner Autoren, jeder auch eine Redundanz, ein Entgegenkommen und doch Forttreiben. Es wirkt, als liefen wir auf ein gelbes Blumenfeld, stießen in dem bizarr eintönigen Wachstum auf uns selbst und verprügelten uns schließlich infolge des betrachteten Ekels – wie schon in Chuck Palahniuks „Fight Club“. Die Rückrufaktion ist in „Finsterworld“ der Mensch. Laut Dokumentarfilmerin Franziska Feldenhoven stellt sich ohnehin die Frage: „Wäre es nicht viel besser, wenn es gar keine Menschen mehr auf der Welt geben würde?“ Während sich August Engelhardt in „Imperium“ am Kokovorismus müht, ist es in „Finsterworld“ gleich der Deutsche, welcher eine Metamorphose probiert und dabei auf dem Zahnfleisch der Skurrilitäten wandert. Weshalb „Finsterworld“ trotz des eigentlich spröde zur Schau gestellten Irrsinns wirkt, erklärt sich in der Würze seiner Dialoge und wahlweise verteufelten Mischung aus Tragödie und Satire.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Finsterworld“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.