Jakob Lass’ nächster Film wurde sehnsüchtig erwartet. Nicht nur, weil der in Berlin lebende Münchner einer der wenigen Hoffnungsträger des derzeitigen deutschen Films ist, sondern weil seine Produktionsfirma FOGMA wohl eines der interessantesten Gespanne der letzten Jahre bildet. Mit „Love Steaks“ gewannen Ines Schiller, Golo Schultz und Lass beim Filmfest München 2013 alle Preise der Sektion Neues Deutsches Kino. Der einstimmige Applaus von Kritikern und Publikum setzte ein wichtiges Zeichen für die sich neu findende deutsche Kinolandschaft. Es ist wieder an der Zeit, Konventionen zu brechen und sich optimale Bedingungen einfach selbst zu generieren. Weg von absoluten Normen, weg von kollektiver Überarbeitung, die jegliche Atmosphäre zerstört. Der Großteil des Stabes von „Love Steaks“ ist nun bei „Tiger Girl“ wiederzufinden – never change a winning team. Das besondere an der FOGMA-Aufteilung ist, dass sie multifunktional wirkt: Schiller als Autorin und Produzentin, Schultz als Produzent sowie Komponist und Lass als Autor und Regisseur.
Dieses Mal geht es aber nicht direkt um eine Liebesbeziehung, sondern um die ironisch-dramatische Entwicklung eines naiven Blümchens zu einem unberechenbaren „Monster“. Maria Dragus spielt Maggie, eine junge Frau, die sich für eine Ausbildung zur Sicherheitsfrau entscheidet, da sie bei der praktischen Sportprüfung für die Polizei durchgefallen ist. Dadurch hat sie schon nach kurzer Zeit Zugang zu Uniformen und soll auf Patrouille gehen. Sie trifft immer wieder auf Theo, ein im Gegensatz zu ihr erfolgreicher Mitbewerber vom Polizeitest, der sie gerne mit nach Hause nehmen will. Sie findet ihn attraktiv, ihr geht das aber zu schnell und sie versucht sich von seinen Avancen zu lösen. Ein schleichender Schatten namens Tiger (Ella Rumpf) taucht zum ersten Mal auf und leistet ihr ungebetene Hilfe. Tiger ist ähnlich alt wie Maggie, eine Amazone, die in Leopardenleggings durch Berlin springt und dabei die Luft zerreißt. Lass lässt zwei Gegensätze kollidieren. Tigers Parolen lauten: „Du musst einfach sagen, was du willst und dann kriegst du’s auch!“; Maggie ist eher hörig und nicht wirklich selbstbewusst.
Tiger hingegen ist eine Kämpfernatur, die – teils ritterlich, teils aus Frust und Fun – Gewalt gegenüber Menschen und Objekten anwendet. Sie ist die aggressive Antwort auf Sexismus und das Patriarchat, ihr Charakter zeigt ein ansteckendes Übermaß an Gewaltbereitschaft, gleichzeitig aber auch eine waltende Gerechtigkeit. Aus Langeweile oder vielleicht auch aus fehlender Beschäftigung löst sie Konflikte (aus). Pöbeleien, Bitch Fights, Demonstration von Kampfkunst und -wille. Auf der anderen Seite die Verteidigung von Menschlichkeit und das Einschreiten gegen das Überschreiten von Grenzen. Ihr Einfluss auf Maggie, die sie Vanilla nennt, nimmt während gemeinsamer Patrouillen zu, und dabei verliert Tiger aus den Augen, dass Vanilla den substanziellen Kern ihrer Aktionen nicht verstanden hat. Dass nicht jede ihrer Aktionen moralisch untermauert ist, fällt Tiger schlussendlich reflexiv durch eine charakterlich mutierte Vanilla auf.
Es gab als Vorgabe keine ausgeschriebenen Dialoge, im sogenannten Skelettbuch wurde lediglich ein Grundgerüst festgehalten, das Improvisation suggeriert. Kurzweilige und authentische Szenen bieten großartige Unterhaltung, der Zufallsfaktor ist dabei eine wichtige Variable. So bleibt „Tiger Girl“ durch emotionale Szenen, aber auch situativen Humor abwechslungsreich. Vanilla und Tiger missbrauchen beispielsweise die Uniformen der Sicherheitsfirma, um Leuten im Park ihre Fahrräder zu klauen oder einen jungen Mann komplett zu entkleiden. Zusätzlich unterstützt Lass diese Herangehensweise, indem er seinen Hauptdarstellerinnen, die auch privat befreundet sind, Motivationen für einzelne Sequenzen unabhängig voneinander erklärte, um Konflikte auf natürliche Art und Weise zu erwirken. Am Set war es den Machern wichtig, geregelte Arbeitszeiten einzuhalten – ein weiteres Pendant zur hiesigen Konkurrenz. Diese Freiheit ist erfrischend und zeigt, dass auch der deutsche Film gut funktionieren kann, ohne sprachlich ans Theater zu erinnern.
Gleichzeitig heiße das nicht, dass Freiheit Beliebigkeit bedeute – „Scharfe Freiheit braucht klare Kanten“, sagt das FOGMA-Team. Dies findet man nicht nur in Tigers Charakter, es ist Ella Rumpf selbst, die diese Kanten schon längst besitzt. Daher lebt „Tiger Girl“ von einem deftigen Schuss Realismus, dem man sich nur schwer entziehen kann. Nachdem „Love Steaks“ sich der Liebe widmete, ist die wechselseitige Beziehung zwischen Tiger und Vanilla eine Geschichte der Freundschaft. Doch Maria Dragus fragt zu Recht auf der Pressekonferenz: „Ist nicht jede Freundschaft auch eine Liebesbeziehung?“ Ab dem 6. April kann man sich davon ein eigenes Bild machen, Deutschland erwartet sein modernstes Kino in Form von Martial Arthouse: Der Schlag ins Gesicht in Jump Cuts und Berliner Flair.
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