Ein Dezembertag in Berlin: grauer Himmel, Schneetreiben und diese leicht verwunschene Atmosphäre, die gern, aber dennoch zu selten vor Weihnachten zwischen der überbordenden Beleuchtung des Ku’damms durchschimmert. Ein Tee erwartet mich kurz vor dem Gespräch mit der Hauptdarstellerin von Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“, Adèle Exarchopoulos. Welche Worte will man jedoch noch über einen Film verlieren, der sich innig ins Herz frisst und dort bleibt – mehrere Wochen, gar Monate lang? Ebenso lang reiste Adèle selbst durch die Lande. Sie müsste zumindest gelangweilt sein, wenn nicht sogar müde. Tatsächlich ist es Gelassenheit und noch immer die Freude einen Film vorzustellen, der mit unendlichem Lob übergossen wurde und werden wird.

Wie geht es Ihnen? Sie stellen Ihren Film bereits seit einigen Monaten vor. Bereitet Ihnen das noch immer Freude? Oder sind Sie mittlerweile erschöpft?

Wir sind seit dem Filmfestival in Cannes sehr viel gereist. Ich kannte mich vorher mit Pressearbeit nicht recht aus und mir war nicht klar, dass wir Tag für Tag immer wieder dieselben Fragen beantworten sollten. Aber ich mag es, wenn man aus verschiedenen Kulturen auch unterschiedliche Reaktionen bekommt. Wir können froh sein, die ganze Welt bereisen zu können, auch wenn es bedeutet, dass man eigentlich nichts von den Ländern sieht. Man erzählt seinen Freunden, dass man in Los Angeles, New York oder Berlin ist, aber in Wahrheit steckt man eigentlich nur in Hotels fest. Aber es macht mir immer noch Spaß, weil wir uns am Ende befinden. Ich glaube, ich werde das sehr schnell vermissen, wenn mir klar wird, dass ich jetzt am nächsten Projekt arbeiten muss.

Haben Sie sich dadurch bei diesem Film verstärkt unter Druck gesetzt gefühlt?

Bis Cannes war mir eigentlich nicht klar, wie der Film auf gute oder schlechte Weise ankommen oder welche Preise er gewinnen würde. Aber für mich und meine Karriere war die Tatsache, dass ich jetzt im Rampenlicht stehe, durchaus schwierig, da ich den Druck spüre, den die Leute mir auferlegen. Sie erwarten jetzt so viel von meinem nächsten Film, dass ich eigentlich gar nicht das Recht habe, zu scheitern, einen schlechten Film zu drehen oder eine falsche Entscheidung zu treffen.

Hätten Sie erwartet, dass der Film solche Debatten und Kontroversen auslösen würde?

Niemals. Wir hatten zwar während des Drehs das Gefühl, dass wir etwas Seltenes schaffen, denn es war nicht gewöhnlich oder konventionell. Als ich nach Cannes kam, hatte ich erwartet, dass es Menschen gibt, die den Film mögen und wieder andere, die ihn nicht mögen. Als wir dann aber sahen, dass jeder Journalist, jeder Besucher vom Film berührt war, war das für uns eine große Überraschung, mit der wir niemals gerechnet hätten. Das letzte Jahr war für mich ein unglaublich merkwürdiges und schnelles Jahr – ein Jahr des Wandels für mich.

Ist es überhaupt möglich, einen Film mit solch expliziten Sexszenen in die amerikanischen Kinos zu bringen?

Der Film läuft dort bereits und das sehr gut. Wir haben diesen Erfolg in Los Angeles oder New York nicht erwartet. Allerdings ist er auch erst ab achtzehn Jahren freigegeben und in Utah sogar verboten worden. Wahrscheinlich weil sich die amerikanische Kultur in ihrer Prüderei auf diese Sexszenen versteift, weil es ungewohnt für sie ist. Überhaupt ist dort alles etwas seltsam. Wenn ich dort bin, kann ich kein Bier trinken, weil mich jeder wie ein Kind behandelt, aber ich kann mir eine Kalaschnikow kaufen. In all ihren Filmen gibt es Gewalt, aber wenn dann mal eine Sexszene kommt, dann gehen gleich die Alarmglocken an. Dabei waren das beim Dreh gar nicht die schwierigsten Szenen.

Welche Szenen waren denn am schwierigsten zu drehen?

Das waren durchaus die Essenszenen, denn bei den Sexszenen lässt man sich einfach gehen. Man öffnet sich seinem Gegenüber, lässt es einfach geschehen und denkt an rein gar nichts. Abdellatif Kechiche verlangt von seinen Darstellern, dass sie sich komplett fallen lassen und ihre Maske verlieren. In den Essenszenen essen wir so unglaublich viel, daher zählt die Essenszene mit meinem Freund zu Beginn des Filmes zu meinen schwierigsten. Ich habe dabei wirklich ein Trauma davongetragen, denn seitdem kann ich keinen Kebab mehr essen. Selbst wenn in Paris alle Läden geschlossen sind und ich am verhungern bin, werde ich keinen Kebab mehr essen können. Allein am Morgen des Drehs musste ich davon acht Stück verdrücken. So ging es dann den ganzen Tag weiter.

In der Presse gab es Diskussionen zwischen Abdellatif Kechiche und Léa Seydoux, die sich gegenseitig Vorwürfe gemacht haben. Ist das inzwischen vorbei?

Ja, das liegt alles hinter uns. Das Ganze war ein riesiges menschliches Abenteuer und Abdellatif kann manchmal wirklich hart sein, weil er genauso mit sich selbst umgeht. Er hat eine unglaubliche Energie und will immer das Beste aus dir herausholen. Er dreht nicht wirklich nach einem Plan. Wenn gerade eine Liebesszene angesetzt ist, dann kann es sein, dass er zu dir sagt: „Okay, Du kannst gerne diese Liebesszene drehen, aber wenn Dir danach sein sollte, sie anzuschreien oder sie zu verlassen, dann mach das.“ Die Kamera hat sich uns wie eine zweite Haut angepasst, was dann mitunter durchaus schwierig ist, weil es eben keinen Plan im konventionellen Sinne gibt und alles improvisiert wird. Es konnte sein, dass wir einen ganzen Tag nicht drehten und er plötzlich zu dir sagt: „Komm, wir essen jetzt einen Cheeseburger und Du weinst dabei und dann schauen wir, wo wir das im Film verwenden können.“

Du musst ihm vollends vertrauen, dich ihm vollkommen hingeben – und das war ziemlich hart, lang und intensiv. Für ihn ist es wahrscheinlich eine Art Pflicht, so nah wie möglich an der Realität zu sein.

Würden Sie wieder mit ihm arbeiten?

Ich glaube nicht jetzt sofort, weil ich mich erst anderweitig ausprobieren muss. Aber man kann zu ihm nicht nein sagen, weil er der wundervollste Regisseur ist. Vielleicht werde ich beim nächsten Dreh mit ihm anders denken, aber er ist jemand, der dich Dinge fühlen lässt und immer die besten Szenen für dich sucht.

Abdellatif Kechiche hat in einem Interview gesagt, dass er sich durchaus vorstellen kann, irgendwann weitere Kapitel aus Adèles Leben zu erzählen. Das wäre dann aber ein Grund, oder nicht?

Auf jeden Fall! Ich habe schon zu ihm gesagt, dass ich, sollten meine nächsten Filme floppen, einfach mit den Fingern schnippe und ihm sage: „Komm lass uns die Kapitel zwei, drei und vier drehen.“

Können Sie sich vorstellen, worum es in den weiteren Kapiteln geht?

Wir müssten uns erst im Klaren sein, in welchem Alter wir uns wieder Adèle zuwenden. Ich liebe die Tatsache, dass der Film ein offenes Ende hat. So können sich die Zuschauer verschiedene Situationen in der Zukunft ausmalen. Vielleicht geht sie nach New York, vielleicht … ich weiß es nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie diese Liebe niemals vergessen wird.

Wie interpretieren Sie die letzte Szene des Films, in der Adéle die Galerie verlässt. Glauben Sie, dass sie jetzt in der Lage ist, nach vorn zu blicken?

Ich meine, Zeit heilt alle Wunden, gerade in einer solchen Situation.

Glauben Sie, dass am Ende die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Emma und Adéle ausschlaggebend für die Trennung waren?

Das sehen fast alle so, aber ich kann dem nicht recht zustimmen. Es handelt sich vielmehr um eine Verkettung von Missverständnissen, Einsamkeit, Fehlinterpretationen und Opferungen. Meine Rolle hat von Anfang an das Verlangen, Lehrerin zu werden. Dafür lebt sie, während Emma nie wirklich zufrieden ist und sich immer wieder selbst infrage stellt. Und während Emma sich treiben lässt, bleibt Adèle an ihrer Seite und hofft, dass diese Stille irgendwann endet und es wieder besser wird. Aber Emma reagiert immer egoistischer. In der Szene, in der es zur Trennung der Beiden kommt, waren die Dialoge komplett improvisiert und mir kam als erstes in den Sinn, ihr zu sagen: „Ich habe mich einsam gefühlt und Dich deshalb betrogen. Aber dafür habe ich keinerlei Entschuldigung. Ich habe mich neben Dir einsam gefühlt – im selben Bett, im selben Haus, in der selben Beziehung. Du warst einfach nicht mehr für mich da.“

Was mir an diesem Film so sehr gefällt, ist die Tatsache, dass die Geschichte fast dieselbe gewesen wäre, hätte Adéle sich in einen Jungen verliebt. Sehen Sie das genauso?

Es macht für mich keinen Unterschied, ob sie sich in ein Mädchen oder einen Jungen verliebt. Die Menschen sollten vergessen, dass sich hier zwei Frauen ineinander verlieben. Selbst während des Drehs haben wir uns nie über lesbische Themen oder homosexuelle Beziehungen unterhalten, sondern immer nur darüber, wie sich zwei Menschen treffen und ineinander verlieben. Wenn man mich fragt, ob das die Meinung anderer über Homosexualität verändern wird, dann sage ich immer, dass darin nicht meine Absicht bestand. Ich betrachte es aber als Erfolg, wenn Menschen, die eigentlich ein Problem damit haben, am Ende des Films völlig vergessen haben, dass sich hier zwei Frauen lieben.

Im Graphic Novel von Julie Maroh, auf der der Film basiert, gibt es eine Szene, in der Emma bei Adèle übernachtet und nachts von Adèles Eltern nackt am Kühlschrank erwischt wird. Warum fiel diese Szene aus dem Film?

Fragen Sie Abdellatif! Wir haben die Szene sogar gedreht. Nachdem ich den Film gesehen hatte, habe ich aber genau dasselbe gefragt, weil ich die Szene sehr mochte. Vielleicht wollte er den Fokus nicht zu sehr auf das Lesbische legen. Die Szene war extrem schwierig zu drehen, denn als meine Eltern von der Beziehung zwischen mir und Emma erfuhren, kommt es zu einem riesigen Streit. Wir waren die ganze Zeit vollkommen nackt – und obwohl ich mit Nacktheit nie zuvor ein Problem hatte, fühlte ich mich in der Szene fürchterlich verletzlich. Das war eine der schwierigsten Szenen des gesamtes Drehs.

Glauben Sie, dass vielleicht nicht nur der Film den Prozess des Erwachsenwerdens widerspiegelt, sondern auch Ihr eigenes Erwachsenwerden?

Ich glaube nicht, obwohl mich vielleicht doch Einiges im Verlauf des Films verändert hat. Zum Beispiel die Art und Weise wie ich esse, weil ich weiß, wie sehr es Abdellatif liebt, jemanden beim Essen zu beobachten. Aber ansonsten haben wir diesen Charakter komponiert.

Aber glauben Sie nicht, dass Sie mit dem Dreh erwachsener geworden sind? Sind Sie zu einer anderen Person gereift?

Nicht wirklich zu einer anderen Person, aber durchaus erwachsener. Ich habe durch die Rolle mit Sicherheit eine ganze Menge gelernt. Der Film war wahrscheinlich die beste Schule überhaupt.

Aufgrund der positiven Resonanz aus den USA: Haben Sie dort jetzt auch einen Agenten?

Ja, den habe ich. Obwohl ich jetzt nicht zwingend nach Amerika gehen muss. Dazu gibt es viel zu viele Regisseure hier, mit denen ich gerne arbeiten würde.

Liegen Ihnen denn schon Angebote von dort vor?

Ja, aber nichts Interessantes. Leider überwiegend Sexfilme. Aber ich muss erst etwas anderes machen, bevor ich wieder zu solchen Szenen zurückkehre.

Können Sie sich vorstellen, so etwas wie Julie Delpy zu machen, also Ihre eigenen Drehbücher zu schreiben oder Regie zu führen?

Ich glaube nicht im Moment. Es kostet so viel Energie, sich um alles zu kümmern. Ein Team zusammenstellen, das Team bezahlen und sie dazu zu bringen, einen Film zu drehen. Aber mit zwanzig traue ich mir das noch nicht zu.

Wissen Sie schon, was Ihre nächsten Projekte sein werden?

Als Nächstes arbeite ich mit Sara Forestier, die auch in Cannes mit dem Film „Suzanne“ [von François Damiens, Anm. d. Red.] vertreten war. Sie ist eine Schauspielerin und dreht ihren ersten eigenen Film, in dem ich die Hauptrolle einer stotternden Frau übernehme. Die Dreharbeiten dazu starten voraussichtlich im Februar.

Lassen Sie uns kurz zu Léa Seydoux kommen. Die Chemie zwischen Ihnen beiden ist großartig und sicherlich auch notwendig für diesen Film.

Als ich wusste, dass ich mit ihr eine Liebesgeschichte drehen sollte und sie nicht nur ein Jahr, sondern mehrere Jahre älter ist als ich, war mir klar, dass wir das nicht mit Gewalt herbeiführen sollten, nach dem Motto: „Wir müssen jetzt beste Freundinnen werden.“ Vom ersten Moment an spürte ich, dass sie ein besonderer Mensch ist. Sie hat eine ganz eigene Art und Weise, um sich solchen Rollen zu nähern. Sie ist einfach toll, talentiert und fügt einer Rolle etwas hinzu, dass ich nicht beschreiben kann. Sie versprüht eine Art von Magie.

Ist es für Sie in gewisser Weise auch ein politischer Film?

Nein. Ich habe mich dem Film niemals auf dieser Ebene genähert. Wir haben immer eine Liebesgeschichte drehen wollen und nicht einen Film, weil gerade in Frankreich die Homo-Ehe erlaubt wird. Das war ein wunderbarer Zufall, aber niemals von uns beabsichtigt. Es ist einfach ein Film, der in der richtigen Zeit spielt.

Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie das erste Mal Schauspielerin werden wollten?

Das habe ich während der Schulzeit herausgefunden. Ich war jung und habe schon mit acht oder zwölf Jahren kleine Improvisationen in der Klasse gemacht, bis der Lehrer zu mir kam und sagte, ich solle ruhig einmal bei Filmcastings mitmachen. Und so bekam ich meine erste Rolle in einem Kurzfilm und fand Gefallen daran. Von Film zu Film habe ich immer mehr gedacht: „Es wäre toll, wenn ich damit meinen Lebensunterhalt verdiene, weil ich mich gut dabei fühle.“

Hatten Sie einen Plan B?

Mein Vater hat mir immer gepredigt, ich solle einen Plan B haben. Aber es gab keinen, den ich gemocht hätte. Ich hatte mir überlegt, dass ich ansonsten sechs Monate in einer Bar arbeiten und dann sechs Monate auf Reisen gehen würde. Dann wieder sechs Monate in einem Restaurant, und so weiter. Das war kein wirklich guter Plan B.

(Interview und Transkript von Stefanie Schneider)

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