Im Rahmen der Berlinale 2016 sprach Kilian Kleinbauer mit Thomas Vinterberg über seinen Film „Die Kommune“, der in der Sektion Wettbewerb lief und den Preis für die Beste Darstellerin erhielt.

Für Erik und Anna beginnt alles wie ein Traum. Als Erik eine großzügige Villa in einem Kopenhagener Nobelviertel erbt, beschließt das Paar, sein konventionelles Familienleben hinter sich zu lassen, und gründet mit Freunden und Bekannten eine Kommune. Der Alltag der kunterbunten Hausgemeinschaft aus Paaren, Singles und Kindern ist geprägt von Freundschaft, Liebe und fröhlich-entspanntem Laissez-faire. Regelmäßige Partys, gemeinsame Essen und Hausversammlungen an der großen Tafel stärken das Gemeinschaftsgefühl, und bis auf kleinere Fehlbeträge in der Bierkasse scheint alles zu stimmen. Doch als Erik sich in die hübsche Studentin Emma verliebt und sie ins Haus aufnimmt, droht die von lässigem Miteinander geprägte Stimmung zu kippen. Der Konflikt zwischen privaten Bedürfnissen und großen Idealen wird zu einer Zerreißprobe für die verlassene Anna und die gesamte Kommune.

Ist es wahr, dass dieser Film von Ihrem persönlichen Leben inspiriert ist? Haben Sie in einer Kommune gelebt?

Nein, ist es nicht. Ja, ja, ich bin in einer Kommune aufgewachsen, als ich sieben bis neunzehn Jahre alt war, und ein Großteil dieser Zeit war für mich eine unglaubliche Art und Weise zu leben. Ich denke an eine goldene Zeit meines Lebens, die sehr magnetisch, lebhaft, chaotisch war, aber auch schmerzhaft. Sie war sehr anregend und ich denke, sie hat mich als Menschen und als Künstler definiert. Als Kind habe ich viel über das menschliche Verhalten gelernt, weil ich sehr schnell verstanden habe, dass Menschen aus zwei Seiten bestehen: Was sie der Welt zeigen und was sie vor der Welt verbergen wollen. Nach ein paar Wochen Zusammenleben bekommt man beides. Wenn jemand in unser Haus einziehen wollte, fragte ich mich schon als Kind, wie er am Montagmorgen sein würde, nachdem er Sonntagnacht betrunken war. Was wird passieren? Ich habe angefangen, zu vermuten und das zu meinem Beruf gemacht.

Ging es in Ihrer Kommune oft darum, Regeln zu diskutieren?

Nein. Es ging eher darum, zusammen Essen machen, sich um die Kinder der anderen zu kümmern, um Geschichten aus dem Arbeitsleben, sich gegenseitig Zeitung vorzulesen und vor allem um meine Geburtstagsfeiern am 19. Mai. Alle Kommunen aus meiner Straße kamen zusammen und gingen in den Wald. Wir waren rund sechzig Leute und haben gesungen. Natürlich gab es auch Hausversammlungen, Demokratie und Konsensprinzip, was lustig und anregend war und sich wie eine Familie anfühlte, aber auch bedrückend sein konnte. Es gab keine Wahlen, sondern sehr lange Gespräche – jeder wollte zustimmen und es bis zum Ende ausdiskutieren.

Wieso war es schmerzhaft, in einer Kommune zu leben?

Es war nicht besonders schmerzhaft, in einer Kommune zu leben, aber in den Siebzigern gab es Tendenzen, die sagten: Kinder frei! Lasst uns in Ruhe und gebt uns eine große Verantwortung als Aufwachsende! Wir wurden mit Respekt behandelt, aber es konnte ein starkes Sehnsuchtsgefühl nach unseren Eltern entstehen neben dem Sinn für Verantwortung. Es ist zudem sehr schmerzhaft für ein Kind, Ehen kollabieren zu sehen.

Sie haben darüber gesprochen, als Kind allein in einer Kommune aufgewachsen zu sein. Das Interessante ist, dass das Schicksal der Kinder über das Schicksal der Erwachsenen entscheidet. Ist das der Grund, wieso Sie diesen Film gemacht haben?

Ich habe das niemals versucht, das ist fiktiv. Der Film basiert nicht auf einer wahren Geschichte, sondern auf einem wahren Gefühl. Aber was ich damals versucht habe, war, die reifste Person im Raum zu sein, auch wenn die anderen zwanzig Jahre älter waren. Ich denke, ich war mit vierzehn Jahren reifer, als ich es jetzt bin. Wir waren sehr verantwortungsbewusst, weil wir experimentiert haben, damit wir unsere Sachen zusammen hatten. Aber in „Die Kommune“ habe ich versucht, ein Porträt vom Leben zu erschaffen, das die Tragödie des Lebens beinhaltet und zu schauen, wie diese in einer Gruppe ausbricht, anstatt anhand eines individuellen Charakters. Das Leben besteht aus vielen Dingen: Freude, Zusammengehörigkeit, Sex, Liebe, aber auch aus dem Verlust von allem. Die Menschen in diesem Film entlieben sich und das Leben verschwindet aus dem Körper des Jungen. Es gibt eine Zeit, die nie wieder kommen wird. Und ich habe versucht, diese Art des Lebens und die Art und Weise, wie eine Kommune darauf reagieren würde, einzufangen. Ich habe sogar versucht, dabei sehr selbst-konfrontierend zu sein: mein Umfeld, mein eigenes Leben und meine Angst, vor dem alt werden.

Nachdem Sie anfangs alle Teilnehmer der Kommune eingeführt haben, fokussieren Sie sich sehr auf das Paar Eric und Anna und die gemeinsame Tochter. Wieso haben sie diese Form gewählt und die anderen mehr oder weniger weggelassen beziehungsweise an den Rand gesetzt?

Ich denke, Annas Zweisamkeitsexperimente erzählen mehr über Gruppen als alles andere. Sie versucht, alles zu umarmen und ihre Ehe überleben zu lassen, indem sie eine Kommune gründet. Diese beiden Geschichten koexistieren – ich nehme an, ich werde immer damit beginnen, einen Film mit einer Haupt- und einer Nebengeschichte zu machen. Im Drama kann man nicht demokratisch sein. Es wird einfach verblassen. Na gut, manche schaffen es, tatsächlich waren manche erfolgreich, aber in diesem Fall war ich emotional damit befasst, dass diese Menschen der Liebe entwachsen. Die Familie zerfällt in ihrer Beziehung als eine Gemeinschaft.

Ich denke, Sie arbeiten viel mit Dynamik, insbesondere mit der Dynamik des gebrochenen Paars. Glauben Sie, dass das Leben in einer Kommune eine Chance auf neue Reize für eine Beziehung bietet oder ist es eher der Anfang vom Ende?

Fragen Sie das meinen Vater! Seiner Überzeugung nach wäre er eher geschieden gewesen, wenn sie nicht eingezogen wären. Ihr Leben war freier und diese Kommune bewahrte sie vom klaustrophobischen, unerotischen Gefühl fehlender Neugier; der Falle einer mittelmäßigen Ehe. Ich denke, es kann auch genau andersrum laufen: Man ist weniger geschützt, weniger fokussiert, und das kann auch eine Gefahr sein. Es gibt wohl keine universelle Antwort auf diese Frage. Wenn Menschen mich fragen, wie es war, in einer Kommune zu leben, ist es in etwa so, als ob man fragen würde: Wie war es, in einer Familie zu leben? Das hängt davon ab, in welcher Familie man aufgewachsen ist. Es gab so viele Kommunen in Dänemark, allein in meiner Straße waren zweiunddreißig Häuser und in sechs davon lebten Kommunen – und alle waren so unterschiedlich. Wenn ich von der österreichischen Kommune höre, in der es Pädophilie gab, das ist ein anderer Planet, so etwas gab es bei uns nicht.

Diese eine Kommune ist eine Ausnahme gewesen.

Ich weiß, das ist genau, was ich meinte: Kommunen waren alle Ausnahmen. Jede Familie ist eine Ausnahme. Sie haben ihre eigenen Regeln und auch wir hatten unsere eigenen Regeln und Agenden.

Die Zahl der alten Menschen steigt, es kommen zu wenige junge Menschen nach. Wäre eine Kommune nicht ein gutes Konzept für heute? 

Ich denke, in der westlichen Gesellschaft haben wir etwas sehr Dummes gemacht. Wir missachten das Älterwerden und die Angst davor, älter zu werden. Wenn man nach Asien sieht, in den Osten, dann ist es das Gegenteil. Man wächst in seine Würde hinein. Man wird zum Lehrer und die Menschen respektieren einen mit dem Fortschritt des Alters mehr und mehr. Wir haben uns diese enormen Probleme erschaffen und jetzt reden wir über ein Land mit vielen alten Menschen wie über eine Last. Es sollte als Vermögen angesehen werden, als Vermögen von Wissen und Erfahrung. Manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue und bemerke, dass ich älter werde, wünsche ich mir, dass ich in Japan leben würde, oder wo anders, wo man alte Menschen respektiert.

Sie haben „Die Kommune“ zunächst als Theaterstück geschrieben und in Wien inszeniert. Wie gelang Ihnen die Umsetzung in einem Film? Welche neuen Möglichkeiten sowie Limits ergaben sich?

Viel der Gruppendynamik wurde bei den Aufführungen auf der Bühne erfunden, was dem Ganzen etwas Lebendiges gab. Manche Dialoge waren irrational, weil sie improvisiert waren. Wir haben das monatelang jede Nacht getestet, also hatten die Dialoge etwas vom echten Leben, aber sie unterlagen immer noch der Arbeit des dramatischen Triebwerks, was ein großer Vorteil war. Die Umsetzung in einem Film war ein sehr instinktiver Prozess. Im Film geht es viel darum, was man nicht sagt. Es geht sehr um das Verbergen, und im Theater geht es um das Ausdrücken – mit dem ganzen Körper. Deswegen sind diese beiden Medien so verschieden. Aber ich habe viel von der Gruppendynamik auf der Bühne übernommen.

Es gibt eine Szene, in der die frisch gebackenen Kommunenmitglieder gemeinsam in einen See springen. Was halten Sie von Ritualen?

Rituale sind etwas so Wichtiges für uns. Wenn Sie sich „Der Pate“ ansehen mit dieser Heirat am Anfang oder meinen Film „Das Fest“, es geht darin um Rituale und Familienrituale. Sie sind toll für Filme, weil sie antreiben. Sie zu zeigen, ist ein Weg, um zu zeigen, wie sich Menschen verhalten. Sogar ein Kinobesuch ist ein Ritual: Man kauft ein Ticket, geht zur Toilette, man kauft Süßigkeiten, zeigt sein Ticket vor und setzt sich auf seinen Platz. Das ist nur eine kleine Ansammlung von Geschehnissen, und trotzdem kann man viel darüber erzählen. Jemand wäscht sich die Hände, ein anderer nicht. Manche waschen sich die Hände, bevor sie ihre Genitalien berühren, weil sie neurotisch sind – man kann mit Ritualen so viel über das menschliche Verhalten erzählen.

In Ihren Filmen geht es häufig um Alkohol. Sie wollen einen Film über Alkohol machen. Was hat es damit auf sich?

Es wird nicht nur um Alkohol gehen, sondern um das Feiern von Alkohol. Es ist Fakt, dass viele große Leistungen mit Hilfe von Alkohol bewerkstelligt wurden. Der Zweite Weltkrieg wurde von einem sehr betrunkenen Mann gewonnen, Churchill. Vieles aus der Weltliteratur wurde unter dem Einfluss von Alkohol geschrieben. Wir alle wissen, dass sich eine Konversation enorm entfalten oder der Raum sich ausweiten kann – zumindest am Anfang, danach geht es in Trash über, wenn man zu viel trinkt. Und das finde ich sehr interessant, besonders, dass man daran sterben kann. In Dänemark sterben die Leute ziemlich früh, weil sie zu viel trinken. In „Die Kommune“ wollte ich auf die Klischees verzichten, dass in Kommunen neben freizügigen Aktivitäten nur getrunken wurde. Ich wollte mehr auf die emotionalen Bindungen eingehen – so wie ich es damals selbst erlebt hatte.

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