Das Cinema München überträgt regelmäßig Theaterproduktionen des National Theatre London und der Royal Shakespeare Company. Am 16. April folgt Tom Stoppards „The Hard Problem“ um 20:00 Uhr live aus dem Dorfman Theatre. Weitere Informationen.

Das Theater ist ein Raum der Statik, wenn es seine Dynamik nicht zu nutzen weiß. In den Händen des Belgiers Ivo van Hove ergießt sich das Blut jedoch, bis die Tragödie getan und ihre letzte Hoffnung begraben ist. Über eine Sprinkleranlage platzt es gleich einer Fontäne auf jene Menschen nieder, die im Licht ihrer monochromen Leben mehr begehren, als es im New Yorker Stadtteil Brooklyn in den fünfziger Jahren zu geben scheint. Sie, die Italiener, Sizilianer, die es nach Amerika drängt: ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Zuflucht und Sehnsucht sein soll. Für Eddie Carbone bedeutet dieses Land mehr – für Eddie Carbone bedeutet es den Tod. Der Hafenarbeiter lebt mit seiner Frau Beatrice und seiner Nichte Catherine in Red Hook; dem Viertel Brooklyns, wo sich der Name Al Capone in den roten Lehm des Bodens brannte. Danach blökten lediglich noch Drogen, Armut und Gewalt aus jenem Lehm. Einen Teil dessen kennt Eddie bereits, den anderen wird er niemals kennenlernen. In Arthur Millers „A View From the Bridge“ schleppt er sich durch ein Leben, welches über die Zukunft seiner Nichte diktiert wird, niemals aber über ihn selbst. Bis er in einen Konflikt gerät, welcher mit der Gewalt einer modernen griechischen Tragödie über ihn hinein bricht. Die Schuld wird ihn finden, das ist gewiss.

Ebenso gewiss ist die Reise zu dieser Schuld – so gewiss, wie sie bei Arthur Miller nie wieder war, obwohl er immer am Menschen, seiner Identität und Moral zweifeln ließ; im „Tod eines Handlungsreisenden“ wie auch in „Hexenjagd“. Aber archaischer, radikaler, pochender als durch Ivo van Hove wurde der Untergang eines Mannes noch nie inszeniert. Viel ist dabei nicht zu sehen auf der Bühne des Londoner Wyndham’s Theatre außer einem knietiefen Becken mit gläsernen Membranen auf weißem Grund, welches seine Beobachtung in drei Himmelsrichtungen – nach Osten, Westen und Süden – öffnet, da sich auf beiden Seiten der Bühne ebenfalls Zuschauerränge befinden. Im Norden wächst hingegen ein schwarzer Monolith in die Höhe, den nur eine rechteckige Öffnung ausspart, die als Ein- und Ausgang fingiert. Ein Tor, das nicht nur die Verwandlung des Inneren zum Äußeren signalisiert, sondern zugleich die des Fiktiven, Rationalen zum Realen, Emotionalen. Die Schauspieler schleichen hier barfuß über den Boden, während Gabriel Faurés Requiem abwechselnd zu Trommelschlägen erklingt, die einen quälend langsamen Takt bis zur Katharsis formulieren. Als einziges Requisit dient ein paar Schuhe. Und der animalische Minimalismus von Protagonisten, die sich in Miller’scher Perfektion sträuben, nur Gut oder Böse zu sein.

Es ist ein Kammerspiel, das sich eines Trauermarschs bedient. Bereits im Eröffnungsmonolog lässt der Anwalt Alfieri den „blutigen Verlauf“ eines Falls anklingen, der „da heißt Eddie Carbone“. Auch folgend führt er durch die zweiaktige Prosa, die einst in Versen durch einen Chor unterstützt wurde. Ohne Pause, ohne Rast, ohne Chance zu verschnaufen. Unverblümt habe ihn seine Frau gewarnt, erzählt Alfieri, „dass es den Leuten in dieser Gegend an Eleganz und Umgangsformen mangele“. Das ist Red Hook: ein Viertel, in dem es sich nicht von Geld, nur von Lehm leben lässt – und vom Duft des Kaffees, der an manchen, an guten Tagen von den brasilianischen Schiffen im Hafen rüberschwappt. So gesehen bringt Eddie Carbone schlicht und ergreifend „sein zu großes Herz“, die Conditio humana zu Fall; das innerste Begehren des Menschen, welches sich ans Menschsein knüpft. Als Beatrice’ zwei Cousins, die Brüder Marco und Rodolpho, in Übersee und damit als illegale Immigranten in Eddies Heim landen, bringen sie die irrationale Hoffnung zweier Menschen mit, die den amerikanischen Traum begehren, weil sie im Italien kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs nichts als Not hatten. Für eine bessere Zukunft siedeln sie über; für einige Jahre, „vielleicht vier, fünf, sechs“, sagt Marco. Um seine Frau, seine drei Kinder zu ernähren.

Marco sagt aber auch: „Wenn man keine Frau hat, hat man Träume.“ Womöglich denkt van Hove seine Inszenierung daher außen restringiert und innen elaboriert. Denn so verschieden Eddie und Marco auch sein mögen, so ähnlich sind sie sich in ihren Porträts durch Mark Strong und Emun Elliott doch. Was Strong als maskuline, sehnige Skulptur eines Working class man offenbart, der gegenüber seiner Nichte inzestuöse Gedanken hegt, diese allerdings nicht als solche wahrhaben möchte, pflegt Elliott mit einer Leidenschaft zu kontern, die ihn als hitzigen Italiener definiert. Wenn Arthur Miller von den Träumen dieser beiden Männer erzählt, schöpft er aus ihrem Irrglauben, nur einfache Arbeiter zu sein. Wenn Ivo van Hove von den Träumen dieser beiden Männer erzählt, schöpft er zudem aus ihrem Irrglauben, kein Schicksal zu haben. Ohne Schicksal lebt sich trotzdem schwer. Denn auch dieses wacht über Eddie, der in Rodolpho einen platinblonden, singenden Kriminellen erkannt haben will, der das Herz seiner Nichte zu rauben begehrt, sie aus dem Haus und fern Eddies Liebe zehren möchte. Alles einer Aufenthaltserlaubnis wegen, die er bei einer Heirat Catherines erhalten würde, so glaubt Eddie. Eine Ambivalenz, mit der van Hove konkret spielt, ohne sich ihrer zu versklaven. Selbst Nähe – eine Umarmung oder ein Handschlag – ist hier ein beißendes Konstrukt, um physische Spannung zu generieren. Es ist ein Ritt auf des Messers Schneide.

Ivo van Hove lässt mit seiner fiebrigen Dramaturgie an nichts weniger als der unbegrenzten Kraft des Films zweifeln. Denn sein „Blick von der Brücke“ fesselt, indem er begrenzt, was grenzenlos ist. Eine Inszenierung kann nur die Worte ihrer Basis fassen. Außer sie verinnerlicht diese Worte in einem Maße, dass sie sich keiner strikten Adaption mehr bedienen, sondern aus ihr ausbrechen. Der Untergang eines Mannes in den fünfziger Jahren kann auf diese Weise zu einer Geschichte reifen, die sich modernisiert, indem sie nicht ihre Worte, sondern ihre Grammatik transponiert. Einen Himmel gab es schon bei Caravaggio nicht. Bei van Hove gibt es noch weniger – doch soviel mehr, als offensichtlich ist. In „A View From the Bridge“ ist zu sehen, was von einem Bild bleibt, wenn keine Farbe mehr auf der Leinwand ist: der wunderschöne Stachel des Schicksals.

Meinungen

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