Welche Isolation ist die Schlimmere? Jene, die unbestimmt, deren Zeitplan nicht vorgegeben ist; oder jene, allein markiert durch den Rhythmus des eigenen Atems?

Stanley Kubrick schnitt letztere Vision in seiner Karriere für einen einzigen Bruchteil an – in „2001: Odyssee im Weltraum“. Da treibt Astronaut Frank Poole dem Tode überlassen im Weltall, nachdem der Bordcomputer HAL 9000 beschließt die Besatzung der Discovery sukzessive „abzuschalten“. Das erste Opfer der Wissenschaft ist eben doch der Mensch, selbst wenn die Anweisungen von einem fehlgeleiteten Elektronengehirn stammen. Vielleicht dachte Alfonso Cuarón genau an diese Weltraumoper, als er die ersten groben Eindrücke für sein aktuelles Projekt „Gravity“ sammelte. Im Prozess des Sehens des einen Films entstand unerwartet ein anderer; so wie Billy Wilder die Idee zu „Das Appartement“ aus David Leans „Begegnung“ fischte, in dem er einer Obsession für den Kerl nachging, der seine Wohnung an ein Liebespaar vermietet.

Allerdings ist Cuarón mehr an einer weiblichen Perspektive gelegen. Deswegen schickt er die Mediziningenieurin Ryan Stone auf ihre erste Mission zusammen mit dem Veteranen Matt Kowalsky, um das Hubble-Weltraumteleskop gezielt in die Erdatmosphäre eintreten zu lassen. Einen Spaziergang im All später reißen die Trümmer eines russischen Satelliten jedoch die Raumfähre Atlantis entzwei. Stellen wir uns für einen Augenblick vor, der Film würde sich eher der Realität als filmischem Pomp bedienen: Da gäbe es keinen Laut in dieser Katastrophe, kein mechanisches Stöhnen oder Fiepen – nichts. In einer frühen Drehbuchfassung aus dem Jahr 2009 folgt schließlich das bekannte Lied vom Ende des menschlichen Lebens, das nur kurz ein technisches überdauert. Stone und Kowalsky speisen als Einzige den verbleibenden Sauerstoff, jeder Rest der Mannschaft verpufft. Ein Bild des traurigen Wahnsinns gibt schon die erste Vorschau: Verzweifelt sucht ein Astronaut einen Anker an den Überresten der Station; kommt dem letzten Strohhalm nahe, doch erreicht ihn nicht.

Cuarón mag kein Exzentriker sein, doch auch er beendet verbissen ein Projekt gegen alle Widrigkeiten. Als Universal Pictures „Gravity“ nach Jahren der Planung verstieß, fühlte sich Warner Bros. für das Endprodukt berufen; doch das Besetzungskarussell begann erst. Im Februar 2010 zeigte Angelina Jolie Interesse an der Titelrolle, sprang Ende des Monats wieder ab, während Robert Downey Jr. im März in Verhandlungen trat. Bis dieser sich im November desselben Jahres anderen Projekten widmete, hatte Warner Bros. schon jede Darstellerin von Marion Cotillard über Scarlett Johansson bis zu Natalie Portman im Fokus. Letztendlich unterschrieben Sandra Bullock und George Clooney; und es ist ein Leichtes den Grund für einen Rückzieher bei all den anderen Kandidaten zu finden. Denn ein Raumanzug beschränkt das Verständnis des modernen Schauspielers, indem er rein die Mimik fordert. Ohne die motorische Unebenheit des gesamten Körpers stirbt jedoch ein Stück der Identifikation mit den Protagonisten. Jene Schwierigkeiten müssen Clooney und besonders Bullock bewältigen und ein Leben im Minimalen formulieren, wie auch Angst rationalisieren. Auf Mitleid allein kann im Kino nicht gepocht werden.

Aber trägt Cuarón überhaupt Science-Fiction vor? „Gravity“ verschreibt sich weniger visionären und fantastischen Elementen, als dem Skelett einer antiquierten Science-Fiction, die Isolation als Grundangst des Menschen behandelt. Tatsächlich ist das Szenario eines des Realismus, da die technischen Feinheiten genauso existieren wie die betroffenen Raumstationen. Lediglich die Quote an Todesopfern bei Außeneinsätzen verschiebt Cuarón ins Utopische: keinen einzigen gibt es in der Geschichte der Raumfahrt.

In Science-Fiction-Filmen geht es nicht um Naturwissenschaft. Es geht um die Katastrophe und damit um eines der ältesten Themen der Kunst. […] Es geht um die Ästhetik der Destruktion, um die seltsame Schönheit der rächenden Verwüstung, der Schaffung eines Chaos.

Susan Sontag: „Die Katastrophenphantasie“

Ob „Gravity“ somit noch zur Science-Fiction als Genre der Idee gezählt werden kann, ist daher von ihren vielfältigen Definitionen abhängig. Zumindest an einem politischen Seitenhieb spart Alfonso Cuarón in dem mit Sohn Jonás verfassten Drehbuch allerdings nicht: Verantwortlich für die Katastrophe ist noch ein russischer Satellit, die Rettung liefert dann womöglich die chinesische Weltraumstation Tiangong 8. Kalter Krieg gegen neue Supermacht. Womit die Frage nach dem Übernatürlichen und Unerklärlichen geklärt wäre.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Gravity“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.