Immer noch: Schnee, Kälte und ein Tee – aber wie sollte sich an der Ausgangslage groß etwas verändert haben, wenn ich doch kurz nach der bezaubernden Adèle Exarchopoulos in Berlin auch mit dem Maestro hinter „Blau ist eine warme Farbe“ sprechen darf. Dabei wird Regisseur Abdellatif Kechiche vor unserem Gespräch leicht aufgehalten. Von Hetzerei jedoch keine Spur: Er wirkt entspannt, gelassen, sogar charmant. Den Zwist zwischen ihm und Léa Seydoux lasse ich sogleich außen vor, denn es gibt in der Kürze der Zeit wesentlich interessantere Aspekte.
Sie haben den Graphic Novel sehr frei adaptiert. Worauf haben Sie verzichtet, was haben Sie geändert und vor allem warum?
Ich habe zunächst den Charakter der Adèle verändert, was dann schließlich alles verändert hat. Auch das Ende habe ich angepasst und die Geschichte an sich ebenso. Aber ein Comic besteht nur aus Zeichnungen, es gibt keine Dialoge. Alles, was dort an Inhalt steht, macht nicht mehr als zwei Seiten aus und daher muss das gefüttert, ausgebaut werden. Ich hatte bereits eine Figur von Adèle entworfen, lange bevor ich diesen Comic entdeckt habe. Dabei handelte es sich um die Figur einer Lehrerin, die widerum von einer Figur inspiriert ist, die ich bereits in meinem Film „L’Esquive“ verwendet habe. Diese Figur wollte ich gerne weiter ausbauen und zeigen, was mit ihr in ihrem Leben geschieht, welchen Problemen sie sich gegenüber sieht, aber dass sie ihre Aufgabe als Lehrerin trotzdem weiter erfüllt. Dass ich dann auf den Comic gestoßen bin, war eher ein Zufall.
Im Graphic Novel gibt es eine Szene, die nicht im Film vorkommt und vom Streit Adèles mit ihren Eltern handelt. Adèle Exarchopoulos sagte uns im Interview, dass die Szene sogar gedreht wurde. Warum ist sie im Film nicht mehr enthalten?
Das Problem an dieser Szene war, dass die Homosexualität so viel Raum eingenommen hat und beim Zuschauer dazu hätte führen können, eine Distanz zur Figur zu entwickeln. Ich empfand die Szene als zu militant für den Film. Meiner Meinung nach ist die beste Art und Weise, über Homosexualität zu reden und einen Diskurs darüber zu führen, sie in den Hintergrund zu rücken und zu banalisieren. Daher habe ich mich dazu entschieden, die Szene im Film nicht mehr so zu verwenden, wie sie gedreht wurde.
Wenn es einen Director’s Cut geben sollte, wäre die Szene darin enthalten?
Wie bereits gesagt, dient die Szene dem Film nicht. Es gibt eine längere Version, die irgendwann im Fernsehen laufen soll, aber auch darin wird man sie nicht sehen.
Welche Szenen sind dann in dieser Fassung erweitert?
[lacht] Mehrere, die im Übrigen auch nicht im Graphic Novel vorhanden sind. Es gibt im Film natürlich Szenen, die gekürzt, aber länger gedreht worden sind und dann ausführlicher zu sehen sein werden.
Sollte die Rahmenhandlung um Adèles Tod aus dem Graphic Novel im Film bewusst vermieden werden, damit der Film nicht allzu tragisch wird und viel mehr die Schönheit der Liebe betont?
Nein, denn ich habe die Figur ohnehin schon verändert und empfand es nicht als notwendig, dies wieder mit aufzunehmen. Ansonsten würde man meinen, das Scheitern der Liebe wäre am Wichtigsten. Und das sehe ich ganz anders. Ich finde, dass die Figur der Adèle durch ihr Überleben größer wird und sich entwickeln kann. So kann sie am Schluss ihren Weg anders gehen.
Der Film beginnt und endet damit, wie Adèle läuft und welchen Weg sie geht. Am Anfang ist sie noch ungeschickt und relativ unwohl in ihrem Körper. Aber am Ende läuft sie aufrecht und hat etwas überwunden. Ich finde, dass die Liebe die Menschen bereichert und nicht vernichtet, tötet oder paralysiert. Im Gegenteil: Adèle ist durch das Scheitern gewachsen.
Der Realismus, den wir – gerade in der Darstellung der Adèle – sehen, ist faszinierend und man sieht mittlerweile dadurch andere Filme und Schauspielleistungen in einem neuen Licht. Glauben Sie, dass andere Regisseure die Art und Weise, wie Sie diesen Film gemacht haben, vielleicht adaptieren könnten?
Ich glaube es nicht, denn jeder Regisseur muss im Endeffekt seinen eigenen Rhythmus und Weg finden, Geschichten zu erzählen. Abgesehen davon ist man natürlich beeinflusst von anderen Filmemachern. Aber es ist eine sehr komplexe Geschichte, etwas zu verstehen, etwas zu wissen oder die Art, wie man Kino macht, was man sich wünscht, was man mit einem Film erreichen möchte. Natürlich gibt es große Filmemacher, die ich sehr bewundere und deren Theorie des Kinos mich fasziniert. Beispielsweise François Truffaut, der sehr schöne Definitionen über das Kino geschrieben und gesagt hat, dass ein Film wie ein Nachtzug sein und einen Rhythmus haben müsse, der an Ernst Lubitsch erinnert. Lubitsch ist im Übrigen auch jemand, den ich sehr bewundere. Aber letztendlich muss man dennoch seinen eigenen Weg finden und sollte niemanden imitieren – was einen jedoch nicht davon abhält, Vorbilder zu haben.
Das Zitat von Truffaut habe ich deshalb zitiert, weil ich lange vor meinem ersten Film versucht habe, genau so zu sein – und meinen Film wie einen Zug in der Nacht werden zu lassen. So habe ich versucht, mich diesem Ideal zu nähern, aber ich empfand das, was ich schrieb, als sehr künstlich. Daher war ich der Meinung, dass man die Theorie verändern muss. Und so ist ein Film für mich nicht wie ein Zug in der Nacht, sondern eher wie eine Kamelkarawane in der Wüste.
Ist „Blau ist eine warme Farbe“ denn ein Kamel in der Wüste?
Vielleicht eher ein Beduine als ein Kamel. [lacht]
Ich denke, dass die Sexszenen genau so richtig sind und den Film in seiner Intensität unterstützen. Was entgegnen Sie aber Kritikern, die behaupten, sie wären zu exhibitionistisch bzw. zu voyeuristisch?
Da das nicht Ihre Meinung ist, werde ich nicht darauf antworten. Wenn Sie mich aber jetzt mit einer anderen Meinung konfrontieren würden, dann würde ich darauf eingehen.
Nicht nur die Sexszenen sind sehr intensiv, sondern auch die Essensszenen. Wie gehen Sie an diese heran?
Damit solche Szenen überhaupt funktionieren, muss man gewisse Parameter schaffen. Ich verlange beispielsweise von meinen Schauspielern, dass sie wirklich Hunger und Lust haben, etwas zu essen. Daher bitte ich sie, am Abend vorher zu fasten, damit sie dann am nächsten Morgen wirklich Appetit haben. Wenn sie dann keinen Hunger mehr haben, dann breche ich die Szene ab und drehe sie am nächsten Tag weiter. Genauso gehe ich im Übrigen auch die Liebesszenen an.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass der Film in der kommenden Award-Saison den einen oder auch mehrere der großen Preise bekommen könnte? Wie groß schätzen Sie die Lobby in Hollywood ein, um das zu erreichen?
Der Film ist ja gar nicht nominiert, bzw. kann gar nicht für den Oscar mehr nominiert werden, weil er nach dem 30. September herausgekommen ist.
[Ich kläre ihn darüber auf, dass der Film zwar für den „Besten fremdsprachigen Film“ nicht nominiert werden kann, jedoch durchaus in anderen Kategorien.]
[lacht] Nein, aber abgesehen davon finde ich den amerikanischen Umgang mit diesen Preisen sehr gesund, weil er ziemlich transparent und offen ist und man ganz genau weiß, wer wählt. Und weil man dadurch auch weiß, wie man filmen muss, um gewählt zu werden. In Frankreich bei den Cèsars weiß man eben nicht so genau, wer im Endeffekt die Entscheidung getroffen hat und warum. Zumindest ist das in den letzten Jahren so gewesen.
Was sind Ihre nächsten Projekte? Ist dabei schon etwas, über das Sie reden können?
Ich arbeite gerade an mehreren Projekten, von denen ich glaube, dass sie in Zukunft realisiert werden können. Eines liegt mir dabei aber schon seit Jahren sehr am Herzen: Dabei geht es um einen Philosophen des 12. Jahrhunderts – Abealard (und Eloisa) –, der in Deutschland wahrscheinlich bekannter ist als in Frankreich.
(Interview und Transkript von Stefanie Schneider)
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