An einem kalten Samstagabend – nur zwei Tage nach Thanksgiving – erwarte ich sehnlichst den Anruf von Hollywoodregisseurin und Drehbuchautorin Nicole Holofcener, die sich trotz des Feiertagswochenendes Zeit für ein Gespräch mit mir nimmt, um über ihren neusten Film „Genug gesagt“ zu sprechen. Das Telefon-Interview ist auf acht Uhr angesetzt. Aus Minuten des Wartens werden jedoch gefühlte Stunden, ich bin nervös und kann kaum noch still sitzen. Als gegen halb neun Ortszeit endlich das Telefon klingt, rutscht mir beinahe das Herz in die Hose. Aber die Panik ist unbegründet, denn Mrs. Holofcener ist alles andere als affektiert. Zu Beginn wirkt sie selbst ein wenig nervös, doch ihre natürliche, bescheidene und freundliche, kalifornische Art wirken sich sehr beruhigend aus.

Lassen Sie mich Ihnen vorab sagen, dass ich Ihren Film als sehr aufbauend empfand. Dabei ist er weder kitschig, noch wirkt er aufgesetzt. Er gibt einem einfach ein gutes Gefühl, besonders an einem kalten und grauen Abend hebt er wahnsinnig die Stimmung. Was toll ist, wenn man bedenkt, dass „Genug gesagt“ kurz vor Weihnachten in den deutschen Kinos erscheinen wird.

[kichert charmant wie ein kleines Mädchen, das nicht so recht zu wissen scheint, wie sie mit diesem Kompliment umgehen soll] Das ist ja phantastisch! Wow, es macht mich wirklich glücklich das zu hören! Wenn Sie so zuversichtlich sind, bin ich mehr als zufrieden.

In Ihren Filmen steht fast immer ein weiblicher Charakter mittleren Alters im Zentrum. Identifizieren Sie sich selbst mit diesen Frauen?

Ja, absolut und wie ich das tue! Seit jeher, dass heißt seitdem ich selbst angefangen habe Filme zu machen. Natürlich identifiziere ich mich mit meinen Charakteren. Was ich damit sagen will: Ich glaube, dass meine Charaktere gemeinsam mit mir altern. Ich bin selbst so alt oder zumindest fühle ich mich so alt, wie die einzelnen Personen, die ich in jedem meiner Filme erfinde – seien sie nun achtzehn oder sechzig. Ich bin auf gewisse Weise jeder dieser Charaktere. Ich schätze das ist eine Art Mitgift oder ein kleines Geschenk, das ich Ihnen auf den Weg gebe.

Man könnte also durchaus sagen, dass in jedem Einzelnen ein kleiner Teil von Ihnen steckt?

Und wie! Manchmal fällt dieser Teil eher klein aus [lacht herzlich], manchmal ist er aber wesentlich größer als bloß klein – fast schon überdimensional, wenn Sie verstehen was ich meine.

Im Vergleich zu Ihren bisherigen Arbeiten stehen diesmal Romantik und Liebe wesentlich mehr im Fokus. Wie erklären Sie sich das?

Ich wollte diesmal einen Film machen, in dem richtige Hauptdarsteller bzw. Hauptfiguren vorkommen. Charaktere, die deutlich ins Zentrum rücken. Bisher habe ich meist Filme gedreht bzw. Drehbücher geschrieben, in denen sich die Handlung um ein ganzes Ensemble drehte. Dies wollte ich nun ändern. Zugegeben: Den meisten meiner Filme fehlte es an richtigen Protagonisten, Romantik oder gar beidem. Ich dachte also es wäre eine wunderbare Herausforderung für mich, beides auf einen Schlag in Angriff zu nehmen.

Ich schätze, die Hauptidee oder vielmehr die Hauptgrundlage für meinen Film waren meine Beziehungen und die Beziehungen der Menschen um mich herum. Sprich, dass ich mich selbst in einer Beziehung nach einer Scheidung befand. Später erfuhr ich, dass mein Ex-Freund wieder eine neue Freundin, mein neuer Freund eine Ex-Frau hatte. Wenn man einfach dieses Bewusstsein entwickelt, dass alles irgendwie kompliziert ist. Sich bewusst macht, wie die Dinge verlaufen und dass alles immer wieder damit endet, dass man sich neu verliebt.

Das ist alles nicht gerade einfach. Egal ob Scheidung oder Trennung, es kommt immer wieder erschwerend hinzu, dass man nicht mehr ganz so einfach Vertrauen findet wie es einem mit sechtzehn möglich war.

Ja, das ist richtig.

Woher kam Ihre Idee für die Rahmenhandlung? Haben Sie schon von einer ähnlich prekären Situation gehört? Sprich: Man geht mit dem Ex eines Freundes aus und weiß es zu Beginn nicht einmal.

Nein. Tatsächlich basiert es auf nichts, dass ich so in dieser Form gehört hätte. Vielmehr geht es um die Gedanken, die ich mir mache, die Fragen die ich mir stelle: Wo stehe ich in meinem Leben, was habe ich erlebt, wie geht es weiter? Ich kenne wirklich niemanden, dem so etwas widerfahren wäre. Obwohl ich tatsächlich in eine ähnliche Situation gekommen bin – glücklicherweise habe ich mich aber anders entschieden.

Erst kürzlich habe ich zufällig die ehemalige Freundin meines Ex-Mannes getroffen und ich sagte ihr einfach: „Hey, ich weiß, dass Ihr mal zusammen wart.“ Woraufhin sie etwas zögerlich antwortete: „Ja, das stimmt, aber ich hätte nicht gedacht, dass du es weißt. Zumindest war ich mir nicht sicher.“ Wissen Sie, ich bin ein Mensch, der die Dinge beim Namen nennt, sie anspricht, um Missverständnisse zu vermeiden. Ich mache mir keine Freude daraus Situationen auszunutzen oder Menschen zu belächeln, mich herablassend zu verhalten. Und ganz nebenbei bemerkt, sie ist so eine nette und freundliche Person, ein richtiger Schatz. Hätte ich mich also anders verhalten, wäre es mehr als unfair gewesen.

Dass heißt, Sie haben mit dem Gedanken gespielt, sich einer Zerreißprobe stellen zu müssen: Was wäre, wenn man sich in einer Situation befinden würde, in der man sich zwischen den eigenen Gefühlen, Instinkten und dem was andere sagen, entscheiden müsste?

Ich schätze, dass ich das im Allgemeinen bereits jeden Tag mache. Manchmal bewusst, aber meistens unterbewusst. Ich ziehe z.B. ein Kleid an und plötzlich höre ich die Stimme meiner Mutter, die auf mein Gewissen einredet [kichert verlegen]. Im Grunde mache ich mir andauernd Gedanken was ein Anderer sagen oder denken könnte. Ein weiteres Beispiel: Ich erhalte ein Jobangebot und versuche eine Entscheidung zu fällen, doch plötzlich denke ich darüber nach, was mein Agent wohl dazu sagen würde. Am Ende geht es doch jeden Tag darum, sich richtig zu entscheiden. Meistens ist dies doch der Fall, wenn man auf sein Bauchgefühl hört – sich selbst gegenüber ehrlich ist. Man selbst zu sein ist ein Fulltime-Job.

Die Charaktere in Ihrem Film sind sehr klar fassbar, beinahe archetypisch: Marianne etwa ist einsam, irgendwie arrogant, eine herablassende Intellektuelle. Ihr Ex-Mann wiederum ist ihr absolutes Gegenteil. Alle Charaktere in „Genug gesagt“ scheinen Paare zu bilden, sie ergänzen sich, im negativen wie im positiven Sinne. Wie – oder vielmehr warum – haben Sie ein so symmetrisches Netz aus Charakteren gebildet?

[lacht auf] Zugegeben: Auch hierbei habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. In gewisser Weise habe ich, so seltsam es klingt, geschiedene Charaktere gebraucht. Wissen Sie, hätten sich Marianne und Albert nicht so grundlegend voneinander unterschieden, wären sie immer noch ein Paar. Wären sie einander ähnlich geblieben, hätten sie sich nicht voneinander entfernt; hätten sie weiterhin viele Gemeinsamkeiten gehabt und wären sie vor allem respektvoll miteinander umgegangen, beständig gewesen, wären sie immer noch verheiratet. Genau aus diesem Grund habe ich jemanden gebraucht, der so anders ist als Albert, jemand der ihn laufend kritisiert.

Außerdem gibt es in L.A. so eine Art Lyrik bzw. Dichternetzwerk. Ich zwar gehöre nicht wirklich dazu, aber ich hatte das Gefühl, das Bedürfnis, dass ich mich über diese Gruppe von Leuten lustig machen möchte. Deswegen habe ich Marianne auch so selbstverliebt und narzisstisch  darstellen wollen. Ich liebe es einfach über Charaktere zu schreiben, die irgendwie komisch sind. Ich schreibe buchstäblich Dinge über die ich in dem Moment sagen kann: „Das wäre eine wirklich witzige Szene“. Und dafür müssen sich die Charaktere eben so oder so verhalten.

Ich denke in Ihrem Film geht es auch um Veränderung: Viele Menschen glauben, man würde sich nicht mehr verändern, sobald man ein bestimmtes Alter erreicht hat – sagen wir irgendwo zwischen 25 und 35. Mir aber hat sehr gut gefallen, dass ihre zentralen Charaktere in der Tat essentielle Veränderungen durchleben – abgesehen von Marianne. Wie kommt es, dass sie ihr einen solchen Werdensprozess nicht zugestanden haben?

Ich habe nicht zugelassen, dass Marianne sich verändert, weil ich der Meinung war, es sei unnötig und wahrscheinlich unrealistisch. Die anderen – Albert, Eva und Sarah – durchleben Prozesse, die es ihnen ermöglichen, aus sich herauszuwachsen, wohingegen die Story durch Marianne erst kompliziert, aber vor allem pikant wird. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass sie sich nicht wirklich weiterentwickeln muss. Allerdings wird sie zutiefst verletzt. Ich glaube, dass ich die Wahrnehmung, die wir anfangs von ihr haben, im Verlauf des Films bewusst verändern wollte. Wenn wir ihr zu Beginn begegnen, wirkt sie so unglaublich glamourös, organisiert und unglaublich cool. Aber dann entdecken wir, dass sie narzisstisch, durchweg negativ und einsam ist, sie hat nicht einmal Freunde. Deswegen wollte ich, dass sie uns am Ende leid tut, weil sie so unglaublich einsam, gebrochen, vielleicht sogar depressiv ist. Ich wollte nicht, dass sie sich noch elender fühlen muss.

Das Interessante ist auch, dass ihre Tochter verzweifelt versucht, so zu sein wie sie, obwohl sie von ihrem Naturell her eher ihrem Vater gleicht. Sie verhält sich so, wie es ihre Mutter von ihr erwartet, zumindest vermutet sie es.

Das stimmt. Aber das tun wir nun mal, wenn wir jung sind. Wir versuchen herauszufinden, wer wir sind und dabei glauben wir, dass wir versuchen müssen so zu sein wie der eine oder der andere Elternteil. Wir sind verwirrt und suchen nach Orientierung.

Wenn wir schon mal von Veränderung und Stagnation sprechen: Es gibt eine wiederkehrende Szene, die mich ziemlich beeindruckt hat. Eva muss immer wieder eine Treppe hochlaufen, um zum Apartment einer ihrer Patienten zu gelangen. Schwer bepackt, zögert sie jedoch, ihn um Hilfe zu bitten. Überinterpretiere ich, wenn ich vermute, dass die Treppe das Leitmotiv im Film ist, als Symbol für die Metamorphose eines Individuums steht?

Zu einem gewissen Grad würde ich ja sagen. Denn ich habe auch diese Szene, dieses Motiv gewählt, weil ich einfach dachte, es sei witzig. Aber andererseits wusste oder ich vermutete vielmehr, dass es eine Bedeutung haben muss. Deshalb beschloss ich, dass sie ihn letztendlich um Hilfe bitten muss. Für mich bedeutet die Treppe, dass das Leben nicht immer so hart sein muss, wie wir es glauben. Ich schätze einfach, dass die Dinge nicht immer so verlaufen müssen, wie wir es vermuten. Manchmal müssen wir einfach um Hilfe bitten, denn Menschen verhalten sich nicht immer absichtlich oder bewusst kränkend.

Dieses Bewusstsein hilft  uns auch zu begreifen, dass wir auch anderen helfen sollten. Wir tragen schließlich alle unsere Verbitterung und unsere Ängste mit uns umher, und glauben viel zu oft, die ganze Welt sei gegen uns. All die schweren Dinge, die Eva mit sich herumtragen muss, repräsentieren ihre Negativität, die Erfahrungen und Niederlagen, die auf ihren Schultern lasten. Wenn Eva ihren Kunden letztendlich fragt, ob er ihr helfen könnte, befreit sie sich und wächst auf emotionaler Ebene über sich heraus.

Es mag seltsam klingen, wenn ich diese Frage stelle, aber es kam mir gerade eben in den Sinn: Warum haben Sie für den Charakter Eva den Beruf der Masseurin gewählt?

Ich habe nicht wirklich analysiert warum. Ich habe jedoch eine Freundin die Masseurin bzw. Physiotherapeutin ist und sie hat mir wirklich witzige Geschichten von ihren Kunden erzählt. Manche scheinen richtige Idioten zu sein und einige dieser Geschichten sollten an dieser Stelle wohl lieber nicht erwähnt werden. Nun ja, ich dachte einfach, dass man über diesen Beruf wahnsinnig witzige Geschichten schreiben könnte. Ihre seltsamen Geschichten boten mir eine wundervolle Möglichkeit mich zu amüsieren, einfach zu lachen – mit all den intimen wie peinlichen Momenten. Ich habe mir Eva zuvor auch nicht als eine Art Heilerin vorgestellt, aber manchmal erschließen sich gewisse Dinge. Das ist eben die Art, wie ich arbeite und wenn ich mir manchmal das, was ich geschrieben habe, anschaue, denke ich mir: Schau, wie ausgewogen und überzeugend dieser Charakter ist.

Eines der wirklich herzerwärmenden, aber auf gewisse Weise auch traurigen Themen in Ihrem Film ist Elternschaft und Loslassen. Die Zeit, in der die Kinder bereit sind, den nächsten Schritt in Richtung Unabhängigkeit zu machen. Als klar wurde, dass ich wegziehen würde, um auf die Uni zu gehen, konnte ich das seltsame Verhalten meiner Eltern – besonders das meiner Mutter – nicht verstehen. Aber nun sechs Jahre später verstehe ich es. Ich denke sie haben dieses Thema auf sehr brillante und sensible Weise aufgegriffen.

Das schmeichelt mir sehr! Wie genau hat sich ihre Mutter denn verhalten? Ich möchte nicht zu persönlich werden, aber ich finde das sehr berührend.

Ich fühlte mich zeitweise einfach gestört, wenn sie ständig in mein Zimmer kam. Sie verhielt sich irgendwie seltsam, es war so eine Mischung aus Erleichterung, Trauer, aber auch Wut. Ich hab das alles nicht so recht verstanden. Erst nachdem ich ein halbes Jahr von zuhause weg war, begriff ich ihr Verhalten langsam und fühlte zum ersten Mal so etwas wie Heimweh. Ich denke, dass Ihr Film diese seltsamen Gefühle sehr gut auf den Punkt bringt.

[Plötzlich aber ertönt eine Stimme aus dem Off und Mrs. Holofceners Agentin läutet die letzte Frage ein.]

Ich schätze, Sie hören diese Frage momentan sehr oft, aber wie war die Zusammenarbeit mit James Gandolfini? Unabhängig von seinem leider sehr plötzlichen Tod. Ich empfand seine Performance als sehr berührend.

Ich glaube, er war ziemlich aufgeregt, die Rolle des Albert zu spielen. Ich schätze, er sah darin eine neue Möglichkeit, einen ganz anderen Charakter zu spielen und uns eine völlig unbekannte, andere Seite seiner selbst zu zeigen. Er hat Tony Soprano so viele Jahre lang gespielt und für uns verkörpert. Dieses Bild von ihm hat sich in unseren Köpfen eingebrannt. Aber abgesehen von seiner Rolle als Albert bin ich mir ziemlich sicher, dass er in seinem Innersten eher sanftmütig war. Mir schien es auch, als habe er sich zu einem gewissen Grad selbst überwinden müssen, die männliche Hauptrolle zu übernehmen. Offen gestanden hat er wundervolle, bezaubernde Arbeit geleistet. Die Art, wie er Albert gespielt hat, war ausgesprochen authentisch.

(Interview und Transkript von Magdalena Natalia Zalewski)

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