Im Zuge der diesjährigen Oscars analysieren wir höchst subjektiv die Stärken und Schwächen eines jeden Nominierten in 24 Kategorien. Es soll jedoch nicht um eine Prognose gehen, sondern um die Qualität jedes Einzelnen. Eine Übersicht aller Beiträge findet sich hier. Zudem veranstalten wir ein großes Oscar-Tippspiel.

Die Kunst ist ihnen allen eigen: die Kunst des Ruhms, die Kunst der Verdrängung, die Kunst des Lebens, die Kunst der Revolution, die Kunst des politischen Kommentars. Alle fünf nominierten Dokumentationen schöpfen aus den gewöhnlichen und ungewöhnlichen Methoden ihrer Form – und sie alle brillieren manchmal nur auf einem bestimmten Gebiet. Natürlich treffen sie ebenso eine Aussage: Denn der Dokumentarfilm mag in der Öffentlichkeit einen zutiefst unscheinbaren Rang besitzen, es bleibt jedoch seit jeher eine der spannendsten, weil wegweisendsten Kategorien der Oscars. Weil es immer um Stärke geht, und weil wir sie immer leichthin finden können.

Die Nominierten

Oscar: Bester Dokumentarfilm © Weinstein Company, RADiUS-TWC, Submarine Entertainment, Neue Visionen Filmverleih, Noujaim Films (v. l. n. r.)

Oscar: Bester Dokumentarfilm © Weinstein Company, RADiUS-TWC, Submarine Entertainment, Neue Visionen Filmverleih, Noujaim Films (v. l. n. r.)

„20 Feet from Stardom“

Wie recht diese Mädchen haben: Es braucht Selbstbewusstsein, einen Wunsch zu hegen und aus dem Schatten der Mikrofone im Hintergrund ins Licht zu treten. Es entlarvt sowohl die Hoffnung als auch die Verunsicherung eines Sängers – darüber hinaus entlarvt Morgan Nevilles elegante Dokumentation „20 Feet from Stardom“ ebenso das Talent dieser Sänger. Er schließt uns ein in ihre Philosophien, ihre Erinnerungen, ihre Karrieren. Noch mehr jedoch schmettert er eine klassische Melodie mit reichhaltigen, markanten Harmonien und vielleicht sogar einem Überdruss an Emotion. Tatsächlich könnte Neville wesentlich stärker auf seinen Soundtrack vertrauen, da er die Grundlage dieser Geschichte und das Motiv allen Zaubers bildet. Leider produziert er stattdessen seichte Tiefe; er will eintauchen – doch es mag ihm nicht gelingen. So scheint ein unglücklicherweise übersehener Beruf nostalgisiert.

„Cutie and the Boxer“

In den intimsten Dokumentationen versteckt sich auch immer eine entwaffnende oder eine beruhigende Offenheit. Mit letzterer ist der gleich seinen Subjekten schlichte und sanfte „Cutie and the Boxer“ gesegnet. Seine unmittelbare Untersuchung von Shinohara Norikos und Ushios Werken erhält sich sein Bewusstsein auf den Zuschauer; und obwohl die Anwesenheit eines Kamerateams spürbar sein mag – seine Bedeutung ist es nicht. Wir fühlen uns in das alltägliche Leben und Arbeiten der Shinoharas ein; doch nicht heimlich wie eine Maus, sondern vielmehr wie ein Gast in ihrem Zuhause: beobachtend, aber niemals störend. Denn die individuelle Kunst der Shinoharas ist ein Testament auf die Kraft der Kunst, nicht auf die Ideen oder das Handwerk dahinter. Allein wegen der schieren Wucht, die wir dadurch erfahren.

„Dirty Wars“

Jeremy Scahill versucht sich in „Dirty Wars“ an den mannigfaltigen Aspekten einer Geschichte, welche schließlich einstürzt, als sie sich allein auf eine Sichtweise spezialisiert und alle weiteren aussperrt. Es sind die Halbwahrheiten, die man uns erzählte, aber für Scahill keine Erzählung mehr wert zu sein scheinen. So sicher er sich seiner Wahrheit ist, wirft er damit doch gleichsam die essenzielle Frage um, inwiefern wir einer Regierung noch trauen können und fragt stattdessen: Inwiefern können wir Scahill selbst trauen? Während die US-amerikanische Regierung seine Behauptungen widerlegt und Anfragen ignoriert, flüchtet Scahill in überbordende Floskeln und eine überdramatische Narration. Zumindest jedoch destilliert er den Krieg in seinen elementaren, verheerenden Einzelheiten.

„The Act of Killing“

Alle Wahrheit findet sich gebündelt in den zelebrierten Tätern des Massenmords – den gierigen, mächtigen, prominenten Verbrechern, die ihre abscheulichen Akte durch die künstlerischen Wiedergänger der Wahrheit erneut abbilden. Mit atemraubendem Freimut besinnen sie sich in Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ auf ihre Erzählungen, ihre außergewöhnlichen Einzelheiten, getragen von Stolz. Und in ihren primitiven, schwülstigen, skurrilen Wiederholungen wirken jene Erzählungen ungeheuer aufschlussreich. Aufschlussreich über die Wahrheit, die im Indonesien des Jahres 1965 geschah, aufschlussreich, was in Indonesien seitdem geschah, aufschlussreich über die Psyche jener, die darin verwickelt waren, aufschlussreich über die Psyche jener, die nicht darin verwickelt waren: wir und die Welt an sich.

„The Square“

Die Menschen Ägyptens mögen wissen, was sie nicht wollen, aber dennoch wissen sie nicht, was sie wollen. Für eine afrikanische Nation leben sie in relativem Wohlstand, doch zugleich in den sozialen und demografischen Einschränkungen einer Nation des Nahen Ostens. Ihr Streben wandelte sich zu einem Kampf, welcher – aus den Augen eines Optimisten – zwei Regime niederrang oder – aus den Augen eines Pessimisten – das Schlechte mit dem noch Schlechterem ersetzte. Dieses Ringen um Unabhängigkeit treibt die Nation bis heute an. Ebenso konkretisiert es Jehane Noujaims „The Square“. Ihre Dokumentation besticht durch die Klarheit einer arrangierten Wiederaufführung, doch zusätzlich mit dem unerlässlichen Stachel der Realität. Sie kondensiert die Essenz ihres Subjekts, indem sie es weder betrügt noch allzu lose mit dem Zeitrahmen spielt.

Re­sü­mee

Soweit es auch um Stärke gehen mag, so sehr offerieren die Dokumentationen dieses Jahrgangs doch einen Hang zum Simplizismus mittels ihrer thematischen und schließlich narrativ geformten Mittel. Dennoch: Ein politisches Korsett zwingt nur zwei von ihnen („The Square“ und „The Act of Killing“) auch in einen starken Ausdruck. So verlaufen sich sowohl „Dirty Wars“ als auch „20 Feet from Stardom“ in vereinfachten Plattitüden mit leidlich Mehrwert oder gar großartiger Aussagekraft. Dagegen überstrahlt „Cutie and the Boxer“ ein ganzes Genre mit seiner Herzenswärme über zwei Künstler, die mehr noch als über die Kunst von einer tief geprägten Lebensfreude berichten. Nicht immer geht es dabei um Relevanz – es zeigt vielmehr die ungeahnte Kraft des Dokumentarischen. Ohne Zeigefinger. Aber mit Liebe.

Meinungen

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