Wenige Stunden nach Tag 4: Der Wecker erinnert einen am frühen Montagmorgen gefälligst wieder aufzustehen und sich dem alltäglichen Anstellwahnsinn zu widmen. Es wird sakral: „Kreuzweg“ empfindet in vierzehn Einstellungen eindrucksvoll den Leidensweg Christi nach. Jesus in Form von Maria Göttler. Mehr muss man dazu wahrscheinlich nicht mehr sagen. Kurz darauf leichtes Kontrastprogramm. Lars von Triers Porno-Versuch „Nymphomaniac 1“ (Langfassung) brennt sich mit überraschender Subtilität und Ästhetik in den voll besetzten Friedrichstadtpalast. Im Anschluss feiert die Menge mit langem Applaus die nicht anwesende Filmcrew.
Obszön geht es weiter. Nick Cave wird dabei gefilmt, wie er seine satanischen Rhythmen von sich gibt. Iain Forsyth und Jane Pollard entwerfen mit „20 000 Days on Earth“ eine Hommage über den exzentrischen Australier. Laut und nachdenklich. Am Ende bleibt klassische Musik-Doku-Kost zurück. Eine besondere Überraschung: Nick Cave und die Filmemacher quasselten im Anschluss über ihren Film. Fazit: Früher waren Rockstars Götter. Es ist schade, dass es nicht mehr so ist. Außerordentlich gut unterhalten wurden wir in „Kraftidioten“, dem norwegischen Thriller über den rigorosen Rachefeldzug von Stellan Skarsgård. Der ausgewogene Mix aus skandinavischer Härte und tiefschwarzem Humor macht Spaß und bedient jeden Fan des Actionkinos.
Wir wechseln in den Wilden Westen Österreichs. Sam Riley und Tobias Morretti schießen, reiten und schmähen sich durch die Schluchten. Angenehm brutal und, wie der Titel des Filmes „Das finstere Tal“ verspricht, beklemmend dunkel. Dass ein deutschsprachiger Film es schafft, ein überzeugender Western zu sein, ist erstaunlich. Nach der Weltpremiere fand sich die Finster-Crew auf der Bühne ein, und Tobias Morretti sorgte für ein Abschluss-Highlight. Nachdem die aufdringliche Moderatorin ihn mehrmals nach einem Autogramm für ihre Tante (Ilse, Vermutung der Redaktion) erdreistete, schmetterte er ihren Wunsch mit folgenden grandiosen Worten ab: „Wo habt ihr die denn her? Aus dem Frühstücksfernsehen?“ Bedröppelt wurde das Filmposter wieder eingerollt und wir freuten uns, dass die Penetranz der Moderatorin mit einem verbalen Schrotflintenschuss mitten ins Schamgefühl zerfetzt wurde. Kriminalinspektor Moser kann auch ohne seinen Rex bissig sein.
Tag 6 der Berlinale: kleine Verschnaufpause vor dem großen Finale. Man holt Luft vor dem letzten Showdown und gönnt sich einen ruhigen Dienstag mit zwei Dokumentarfilmen und leichter Kost aus England. „Felice chi è diverso“ zeigt betagte Italiener, die über ihre Homosexualität hauptsächlich gestikulieren und darüber reflektieren. Nostalgische Bilder treffen auf ein immer noch kontroverses Thema. Im Anschluss wurde es sehr meta. Eine Doku über die Doku von Sidney Bernstein und Alfred Hitchcock. „Night Will Fall“ gibt Aufschluss auf die Notwendigkeit einer filmischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. André Singer lässt die drastischen Bilder aus verschiedenen Konzentrationslagern für sich sprechen und wirken.
Nach den zwei Dokumentarfilmen wird es ein wenig leichtfüßiger. Man gönnt sich eine britische Satire. „A Long Way Down“ ist die Verfilmung des Bestsellers von Nick Hornby. Ein Hochhaus mitten in London. Es ist Silvester. Und für was eignet sich dieser Tag besser, als sich umzubringen. Vier Menschen versuchen es an diesem Abend. Letztendlich werden sie Freunden und schließen einen Pakt. Unterhaltung und Wortwitz ist garantiert. Von einem bezaubernden Soundtrack begleitet begeben sich Pierce Brosnan, Aaron Paul, Toni Collette und Imogen Poots auf eine gemeinsame Reise in ein neues Leben. Sanfte Leichtigkeit sorgen für Entertainment und Zerstreuung.
Besprechungen im Überblick
„Nymphomaniac 1“ (Langfassung, ausführliche Kritik)
„Nymphomaniac 1“ ist der nächste Geniestreich von Lars von Trier. Das Leben entsteht durch Geschlechtsverkehr – und dasselbe könnte man über den starbesetzten Film des Dänen sagen. Zusammen mit „Nymphomaniac 2“ bildet der überraschend unterhaltsame erste Teil den Abschluss seiner Depressionstrilogie gemeinsam mit „Antichrist“ und „Melancholia“. Charlotte Gainsbourg erzählt Stellan Skarsgård fast dokumentarisch ihr Leben der Nymphomanie. Inzwischen weiß die ganze Welt, dass von Trier ein provokanter Tabubrecher ist, und natürlich lässt er auch hier keine Gelegenheit aus, um der Prüderie der Menschheit einen Todesstoß zu versetzen. Viele Welten unserer Welt sind bestimmt von Sex und Porno – die Übergänge von Selbstdarstellung zu Koketterie zu Erotik werden immer weicher und fragwürdiger. Gerade hier kommt Joe ins Spiel: eine attraktive Frau, die seit Beginn ihres Lebens einen ebenso fragwürdigen wie unstillbaren Drang nach Befriedigung in sich trägt. Wie man es nicht anders erwarten würde, ist von Trier explizit und verschont kein Auge bzw. Joe keinen Penis. Die Langfassung von 145 Minuten ist dabei pure Filmkunst, ein subtiler Verkehr von Intimitäten und Philosophie.
„Kraftidioten“
Stellan Skarsgård ist einer der besten Darsteller unserer Zeit. Neben „Nymphomaniac“ ist der Schwede auf der Berlinale auch in dem typisch skandinavischen Thriller „Kraftidioten“ von Hans Petter Moland eine brachiale Wucht. Nicht nur seine Physis ist bedrohlich, sein Sinn für Rache wegen des Mordes an seinem Sohn ist unerbittlich. Wie von vielen Skandinaviern gewohnt, ist schweigsamer Makabertanz vorherrschend, die Charaktere sind ein wenig überspitzt, bleiben aber dennoch immer interessant. Gute Drehbücher haben meist viele Wendungen und auch hier wird der Zuschauer durch Wortwitz und Situationskomik perfekt unterhalten. Daher ist das Schwarz-Weiß-Malen von Gut und Böse nicht weiter schlimm, weiß der norwegische Beitrag im Wettbewerb seine Stärken in der witzigen Erzählweise, die durch Running Gags punktet, und der actionreichen Konfrontation von Skarsgård mit seiner Umwelt zu nutzen. Mit einer Schneefräse schafft er sich seine Wege und löst dabei einige Lawinen aus.
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