„Nymphomaniac 1“ ist der nächste Geniestreich von Lars von Trier. Das Leben entsteht durch Geschlechtsverkehr – und dasselbe könnte man über den starbesetzten Film des Dänen sagen. Zusammen mit „Nymphomaniac 2“ bildet der überraschend unterhaltsame erste Teil den Abschluss seiner Depressionstrilogie gemeinsam mit „Antichrist“ und „Melancholia“. Charlotte Gainsbourg erzählt Stellan Skarsgård fast dokumentarisch ihr Leben der Nymphomanie. Inzwischen weiß die ganze Welt, dass von Trier ein provokanter Tabubrecher ist, und natürlich lässt er auch hier keine Gelegenheit aus, um der Prüderie der Menschheit einen Todesstoß zu versetzen. Viele Welten unserer Welt sind bestimmt von Sex und Porno – die Übergänge von Selbstdarstellung zu Koketterie zu Erotik werden immer weicher und fragwürdiger. Gerade hier kommt Joe ins Spiel: eine attraktive Frau, die seit Beginn ihres Lebens einen ebenso fragwürdigen wie unstillbaren Drang nach Befriedigung in sich trägt. Wie man es nicht anders erwarten würde, ist von Trier explizit und verschont kein Auge bzw. Joe keinen Penis. Die Langfassung von 145 Minuten ist dabei pure Filmkunst, ein subtiler Verkehr von Intimitäten und Philosophie.
Die Figuren Joe und deren menschliches Gegenbild Seligman sind ein Spiegelbild des Lars von Trier. Diese an sich paradoxe Aussage über dessen Wesen trifft es wahrscheinlich am genauesten, denn nicht selten liegen die zwei Seiten eines Genies weit entfernt voneinander. Viele Kritiker berufen sich dabei immer wieder auf seinen angeblichen Frauenhass – vor allem bei „Antichrist“ wurde ihm Misogynie am häufigsten vorgeworfen. Doch es stellt sich hierzu die Frage, wieso er dann den Großteil seiner Filme mit Frauen als Hauptdarstellerinnen besetzt und jene stets mit einer sensiblen Tiefe als äußerst komplex und facettenreich darstellt, während Männer eher den Anschein einer absolut begrenzten Rationalität haben. Er selbst betont, dass ihn gerade diese Konstellation von der bösen Frau und dem dummen Mann am meisten interessiere. Man macht es sich daher viel zu einfach, diesen Künstler mit Hang zur Depression als frauenfeindlich abzustempeln. Gerade seine subtile Art und Weise, Verhaltensweisen von sowohl Frauen als auch Männern psychologisch zu untersuchen, hebt ihn aus der Masse hervor.
Deswegen entzieht sich der Vorwurf einer negativen, plumpen Darstellung von Joe als Repräsentanz von Weiblichkeit jeglicher Legitimation. Vielmehr unterstreicht von Trier sein großes Interesse an der weiblichen Existenz, lässt er doch Joe einem Mann ihre komplette Lebensgeschichte erzählen und sich selbst als schlechten Menschen empfinden, was Seligman immer wieder deutlich negiert. Auch verlässt er in seinem neuen Werk die gerade erwähnte Antibiose von Mann und Frau, vergisst aber niemals die problematischen Punkte in den Erzählungen subtil zu erläutern. Stacy Martin, welche die junge Joe verkörpert, meint: „[Der Film] ist eine Feier der weiblichen Sexualität und ebenso eine Feier weiblicher Emanzipation.“
Filme, in denen Sex in intensiver Art und Weise gezeigt wird, gibt es seit spätestens 1908. Doch selbst der ausschweifende Pornomarkt, der separat von der Spielfilmindustrie „Adult Movies“ produziert, fand bisher keinen wirklichen Zugang zur kommerziellen Filmbranche, auch wenn es bereits zahlreiche Werke in der Geschichte gab, in denen intime Spiele der Lust die prüden Münder vor Empörung öffneten. Doch, was ist nun geschehen? Lars von Trier hat einen Film gemacht. Sein Werk „Idioten“ von 1998 ist beispielsweise eine dieser Häresien von echtem Sex, doch hier geht er noch einige Schritte weiter, ohne bei echtem Sex zu verharren. Der Vatikan wird jubeln: Detailaufnahmen von Genitalien, auch wenn diese nur Attrappen sind, Detailaufnahmen vom Geschlechtsakt an sich, Detailaufnahmen von Ejakulation und Lubrikation. Von Trier geht penetrant ins Detail, immer mit dem Mut zur Expression oder Assoziation, was den Vorwurf einer bloßen pornographischen Ausschlachtung seiner selbst bzw. seiner vermeintlichen Perversion vernichtend schweigen lässt.
Wenn man es schafft, selbst den lebensrelevantesten, essenziellsten, womöglich am meisten bedachtesten Fragen dieser Welt noch neue künstlerische, philosophische Komponenten und Gedanken hinzufügen zu können, ist Großes vollbracht worden. Wozu sind wir geboren? Wie kann man glücklich sein? Bedeutet Glück obligatorisch Perfektion? Für den einen oder anderen mag sich dieser Zusammenhang nicht direkt erschließen, aber eigentlich liegt die unabdingbare Verbindung banal auf der Hand: Durch Sex entsteht Leben, egal ob Lust oder Liebe der Auslöser dafür waren. Die pure Libido ist ein Teil des Menschseins. Der Film versteht die Aktivität, Sex zu haben, per se nicht als Ziel des Daseins, vielmehr zeigt er das biologisch verankerte Spiel der Triebe zwischen Menschen im komplexen Zusammenhang mit dem Willen zur Fortpflanzung als Natürlichkeit auf. Der neue Gedanke ist konkret die erweiterte Synästhesierung der eigenen Erfahrungswelt, das filmische Aufzeigen von der Suche nach Befriedigung, welche in Unerfahrung als Exempel der Glückseligkeit infrage gestellt wird. Dazu kommt die geni(t)ale Verknüpfung zur Musik. Menschen und deren Existenz sind wie Stimmen in Stücken und oft ist ein Dreiklang von verschiedenen Stimmen eine Notwendigkeit für den seelischen Erguss von Freude und T(r)ier.
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