Es ist vorbei: Zwölf Tage lang haben die 68. Filmfestspiele von Cannes Filmenthusiasten, Branchenmenschen und Journalisten begeistert, verzweifeln und völlig gleichgültig aus den Kinosälen treten lassen. Es war ein herrliches Fest, wenn auch ein eher durchschnittliches Programm. Die großen Überraschungen ließen lange auf sich warten und die größte Überraschung kam vielleicht gar erst bei der abschließenden Preisverleihung am Sonntagabend. Denn die Jury um die Vorsitzenden Ethan und Joel Coen verleiht die diesjährige Goldene Palme an den Franzosen Jacques Audiard für sein Flüchtlingsdrama „Dheepan“, einen hochaktuellen Film also, der ein hochaktuelles Thema behandelt.

Er zeigt den Lebensalltag von drei Flüchtlingen aus Sri Lanka, die in einem verwahrlosten Pariser Banlieue zwischen die Fronten verfeindeter Banden geraten, obwohl sie eigentlich nur dem Bürgerkrieg in der eigenen Heimat entkommen wollten. Und dieser Bandenkrieg, in dem sich kleinkriminelle, testosterongeladene Drogenhändler gegenseitig abknallen, ist für den ehemaligen Widerstandskämpfer Dheepan noch unverständlicher als die Auseinandersetzungen in seinem Heimatland: Das soll also das Paradies Europa sein, auf dem alle Hoffnungen beruhen? Unter dieser gesellschaftskritischen Folie erzählt dieses Migrantendrama auch eine zärtliche Liebesgeschichte, in der zwei einsame Menschen zueinanderfinden, weil sie dasselbe im Leben durchgemacht haben. Ein beklemmender Film, ein brisanter Film – aber eben gerade nicht der eindruckvollste Wettbewerbsbeitrag aus den neunzehn gezeigten Filmen auf dem diesjährigen Festival in Cannes.

Denn zu den Favoriten zählten eigentlich Paolo Sorrentinos Ode an die jugendliche Schönheit „Youth“, Todd Haynes’ Frauenbeziehungsdrama „Carol“, László Nemes’ Holocausttragödie „Son of Saul“, Yorgos Lanthimos’ Single-Epos „The Lobster“ und Hou Hsiao-hsiens Kampfkunstdrama „The Assassin“. Allesamt Filme, die gewagter waren als der Gewinner der Goldenen Palme. Sie spielten mit Formen, Bildsprache und Erzählkonventionen, verbanden das Unwirkliche mit dem Wirklichen, das Schauderhafte mit dem Wunderbaren. Obwohl sie nicht den Hauptpreis einheimsen konnten, gingen diese Filme trotzdem nicht leer aus. So gewann der taiwanesische Regisseur für „The Assassin“ den Regiepreis der Jury, der ungarische Beitrag „Son of Saul“ den Großen Preis der Jury und der griechisch-britische „The Lobster“ den (kleinen) Preis der Jury.

In der Pressekonferenz im Anschluss an die Preisverleihung begründeten die Coen-Brüder, Sienna Miller, Jake Gyllenhaal, Xavier Dolan und der Rest der Jury-Bande ihre Entscheidung damit, dass sie die Hauptpreise gerne an alle Filme verliehen hätten, aber das ginge ja schließlich nicht. Deshalb wären sie sehr darum bemüht gewesen, eine Balance hinzukriegen, um einen Aspekt in jedem dieser Film zu würdigen. Und am Ende gebe es halt nur eine begrenzte Anzahl an Preisen zu überreichen. Und so ist es in diesem Jahr eben ein brisantes Sozialdrama geworden, das den Hauptgewinn abgestaubt hat, und folgt damit der Tendenz, die Festivalleiter Thierry Frémaux bereits zu Beginn der 68. Festspiele von Cannes vorgegeben hat: Das Festival sollte noch politischer werden, als es sowieso schon war. Chapeau, das ist gelungen. Ob das sein musste, bleibt offen.

Die Gewinner im Überblick

Goldene Palme (Palme d’or)

  • „Dheepan“, Jacques Audiard

Großer Preis der Jury (Grand Prix)

  • „Son of Saul“, László Nemes

Beste Darstellerin (Prix d’interprétation féminine)

  • Rooney Mara, „Carol“ (Todd Haynes)
  • Emmanuelle Bercot, „Mon roi“ (Maïwenn)

Bester Darsteller (Prix d’interprétation masculine)

  • Vincent Lindon, „La loi du marché“ (Stéphane Brizé)

Beste Regie (Prix de la mise en scène)

  • „The Assassin“, Hou Hsiao-hsien

Bestes Drehbuch (Prix du scénario)

  • Michel Franco, „Chronic“

Preis der Jury (Prix du Jury)

Gewinner der Nebenreihe Un certain regard

  • „Hrútar“, Grímur Hákonarson

Gewinner der Nebenreihe Quinzaine des Réalisateurs

  • „My Golden Days“, Arnaud Desplechin

Gewinner der Nebenreihe Semaine de la Critique

  • „Paulina“, Santiago Mitre

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Cannes 2015 – Letzter Tag“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.