Es ist schon ein wenig verwunderlich, wie schnell sich diese Stadt verändert. Dann verstummen langsam die eintönigen Bassbeats der unzähligen Beachclubs an der Croisette; dann verschwinden die schwarzen Smokings, die langen schillernden Abendkleider, die Menschenmassen auf dem Weg zum Palais de Festival. Und Cannes wird zu einer Geisterstadt, in der sich die wenigen übrig gebliebenen Festivalgäste noch von dem vorletzten Screening in das letzte schleppen – endlich nicht mehr stundenlang anstehen müssen – und die flüchtigen Filmmenschen gerade ihre Rollköfferchen Richtung Expressbus 210 ziehen, um sich wieder zurück in die Realität zu machen. Obwohl sich diese Endzeitstimmung allmählich über dem Festivalgelände und der Stadt ausbreitet, steht dennoch das Highlight noch aus: die Verleihung der Goldenen Palme am Sonntagabend. Und bis dahin heißt es ausharren, weiter Filme gucken und wach bleiben – der Nespresso-Bar sei Dank!

Auch in den letzten Tagen hatten die 68. Filmfestspiele in Cannes so manche Großartigkeit zu bieten, und zwar vor allem in der Quinzaine des Réalisateurs. Da wäre zum Beispiel Takashi Miikes „Yakuza Apocalypse“. Bereits die Einführung zum Screening dieses japanischen Exploitation-Gemetzels ließ ahnen, was den Zuschauern später auf der Leinwand erwarten würde. Der Regisseur konnte nämlich leider nicht persönlich vorbeischauen – weil er wie gewohnt bereits an zig neuen Projekten bastelt – und schickte deshalb eine schräge Videobotschaft: Miike als Geisha verkleidet, stilecht im bunt gemusterten Seidenkimono und mit Bambusschirmchen, entschuldigt sich bei den Fans für seine Abwesenheit. Er müsse an seinem neuen Film arbeiten und sei jetzt eine Geisha; außerdem mache er ab sofort nur noch Filme über Liebe und Freundschaft, nicht mehr diese albernen Gewaltfilme wie „Yakuza Apocalypse“. Darin sind die fiesen Schlächter keine Menschen, sondern blutgeile Vampire, auf die am Ende der stärkste, brutalste und süßeste Oberbösewicht seit Langem wartet: ein riesiger Plüschfrosch, der sich zwar kaum in seinem Stoffanzug bewegen kann, aber trotzdem so stark und mächtig ist, dass er alle um sich herum platt macht. Was da alles auf der Leinwand passiert, ist weder realistisch noch logisch. Und gerade deshalb ist Miikes filmisches Blutbad eine unterhaltsame Abwechslung zum sonst eher gemütstrübenden Sozialdramenangebot in Cannes. Man kann sich getrost dem absurden Trash-Wahnsinn hingeben und einfach nur das sinnlose Geballer und Gehaue genießen.

Ebenfalls in der Reihe der Quinzaine des Réalisateurs lief Rick Famuyiwas Gangsterdrama „Dope“, welches am Morgen des zehnten Festivaltages das Publikum derart wach rüttelte, dass es bereits vor Ende des Films zu applaudieren begann. Zu Recht! Denn „Dope“ ist eine wilde Reise in die perspektivlosen Vororte vom Los Angeles der Gegenwart. Drei junge Afroamerikaner wollen anders sein, sie lieben und leben die Neunziger, sehen allesamt aus wie Steve Urkel oder wahlweise der Fresh Prince of Bel Air und lauschen am liebsten dem Wu-Tang Clan. Das finden allerdings die übrigen Burschen in ihrer Hood ziemlich unsexy und möchten sie deshalb lieber auf ihre Seite locken – die dunkle Seite, wo Waffen, Drogen und Geld regieren. Mit dem großartigen Hauptdarsteller Shameik Moore als Unglückspilz Malcolm dekonstruiert Famuyiwa eine Gesellschaft, die nach ihren eigenen Regeln und Ghettomachenschaften lebt.

Im Wettbewerb treten hingegen Chinesen und Taiwanesen gegeneinander an. So entwirft der Chinese Jia Zhangke ein liebevoll-tristes Liebesdreieck in „Mountains May Depart“. Über drei Jahrzehnte hinweg sehnen sich Frau Tao und ihre beiden Verehrer Zhang und Liangzi nach Freiheit, metaphorisch begleitet von der Pet-Shop-Boys-Hymne „Go West“. Vielleicht eine der schönsten Eröffnungssequenzen auf dem diesjährigen Festival: Eine Gruppe junger Chinesen hüpft synchron, aber auf eine gewisse Art und Weise jeder individuell für sich, zu diesem Neunzigerjahre Trash-Hit – und obwohl man sich eigentlich nur innerlich dagegen wehren möchte, sticht diese Einstellung großartig hervor. Ebenso wie die letzte, welche die Geschichte einrahmt: Dann tanzt nur noch die gealterte Tao einsam und verlassen, mittlerweile um die Fünfzig, auf dem Brachland vor ihrem Haus. Es ist dieselbe Choreografie, die sie bereits vor dreißig Jahren gemeinsam mit ihren Freunden aufgeführt hatte. Der einzige Unterschied: Sie ist jetzt allein, denn die zwei Männer haben sich in eine andere Welt aufgemacht, um dort zu scheitern. Der eine, Liangzi, als romantischer Workaholic in einer chinesischen Kohlemine; der andere, Zhang, als kapitalistischer Waffennarr im westlichen Australien.

Der taiwanische Regisseur Hou Hsiao-Hsien hingegen lässt in „The Assassin“ eine resolute Schönheit durch das alte China metzeln. In traditionellen Gewändern, mit traditionellen Haartürmen und traditionellen Samurai-Schwertern attackiert sie nicht nur Feinde, sondern auch Freunde – und am Ende sogar die eigene Familie. Es ist ein melancholisch-ruhiges Spiel mit der Natur: das weite Land, der Wind, der durch die dichten Blätterbäume zischt und immer wieder ein altes Holzhaus, in dem sich die ganze Geschichte abspielt. Da belauscht die Kamera ganz unauffällig ihre Protagonisten durch einen durchsichtigen Seidenvorhang und schafft so außergewöhnliche Bilder, die man nicht mehr vergessen kann. Allerdings ist das einer der Gründe, warum „The Assassin“ auch überfordern kann, weil es bisweilen ein wenig zu verkünstelt daherkommt, zu perfekt inszeniert und am Ende zu langatmig immer wieder die gleichen Szenen hintereinander abspielt.

Auch diese beiden Wettbewerbsfilme sind Favoriten für die Goldene Palme, wie auch Yorgos Lanthimos’ „The Lobster“, Paolo Sorrentinos „Youth“, Todd Haynes’ „Carol“ und László Nemes’ „Son of Saul“. Wir bleiben gespannt.

Meinungen

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