Die Filmfestspiele von Cannes beginnen nicht im Traum, sie beginnen in der Realität. Wobei die Realität an der Côte d’Azur freilich eine andere ist als in Berlin, London oder gar Toronto. Denn hier kann es durchaus vorkommen, dass man sich genüsslich nach Abholung des (in diesem Falle gelben) Presseausweises und entsprechender offizieller Tasche (inklusive eines nicht zu verachtenden Programmheftes von 168 Seiten) in den Sand des Festivalgeländes entlang unzähliger Pavillons legt, die Füße ins eiskalte Wasser streckt und noch vor dem Eröffnungsfilm die Seele baumeln lässt. Ob das nun die Ausnahme oder die Regel der nächsten Tage wird? Man wird sehen. Ziemlich sicher jedoch präsentierte sich das offensichtlich berühmt berüchtigte Konzept des Cannes’schen Wartens auf Godot (oder doch den nächsten Film?). Wehe dem, der sich in falscher Schlange anstellt und dann mit freundlich bestimmtem Fingerzeig in die richtige Abteilung verwiesen wird. Pardon und Merci! Besonders prekär für eben all jene Gelben, die jederzeit einer Mixtur aus Hoffen, Bangen und wagemutiger Ignoranz ausgeliefert sind. Zumindest aber durfte ich an Tag 1 von 1 behaupten, den Eröffnungsfilm „Grace of Monaco“ im schon prächtigen Salle Debussy inmitten des Palais des Festivals gesehen zu haben.
Apropos Nicole Kidman: Ein bisschen entfernt, aber in natura (vielleicht aber eher Körper-abwärts) schwebte sie vor dem Photocall an mir vorbei. Und während bei der Kidman’schen Ankunft vollends Begeisterung überschwappte, folgte derweil bei der ersten Pressevorführung von „Grace of Monaco“ der sanfte Versuch von Buhrufen, denen ein noch kläglicherer Versuch des Applauses folgte.
Eindeutig stärkere Wellen der Begeisterung und durchaus ranziges Lachen war schließlich an Tag 2 gleich um 8:30 Uhr im Grand Théâtre Lumière (was für ein Koloss von Saal!) zu vernehmen, als Timothy Spall sich durch das viktorianische London in Mike Leighs „Mr. Turner“ spuckte, keuchte und motorisch unförmig schleppte. Ein nun stimmiger Applaus folgte, obgleich dieser zuvor über zwei Stunden von regelmäßigem Gähnen durchtränkt wurde, das nicht nur der morgendlichen Zeit zu verdanken war. Eine wundersame Entscheidung ging daraufhin gegen Keren Yedayas „That Lovely Girl“ aus der Sektion Un Certain Regard – da wurde die Tastaturschlägerei nämlich vorgezogen. Wenn man den Kritiken nun glauben möchte, eine mehr als richtige Entscheidung und vor allem eine zuliebe von Sebastiano Risos „Darker Than Midnight“ über den jungen Davide, der singen möchte wie David Bowie und den Hauch seiner Exzentrik schon irgendwie im Blut hat. Leider ist der Vater allerdings ein wenig grob und Davide bricht aus in eine andere Misere. Ein gutes Ende kann das nicht nehmen. Die Tendenzen strickt Rizo hier klar, aber manchmal höchst interessant, so dass man von seiner Stimme gerne mehr hören möchte. Céline Sciamma dagegen ist schon keine frische Stimme mehr, sondern eine Bekannte, die spätestens seit „Tomboy“ für entrücktes Erstaunen sorgen kann. Ihr Eröffnungsfilm der Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs, „Girlhood“, manövriert sich sogleich in ein Staunen über das Erwachsenwerden, allerdings mit gehörig geringerer Memorabilität als noch Richard Linklater mit seinem diesjährigen „Boyhood“.
La catastrophe folgte erst danach, wenn auch schließlich weniger schlimm, als zunächst vermutet. Denn werktags meinen die Bahnen ab Cannes nur bis knapp nach 22:00 Uhr zu verkehren, was unerwartet und doch seltsam anmutet. Immerhin lieferte mich dann noch zu späterer Stunde ein ebenso wartender Mann in Antibes ab, der im Filmmarkt sein Unwesen treibt. Die Welt ist in Cannes eben doch klein genug, um zufällig den Helfer in der Not zu finden (ansonsten wäre nur das Taxi für läpische 80 € geblieben). Dieser Ausweis, der ist dann doch ein rettendes Dokument, wie er so schön um die Hälse baumelt!
Besprechungen im Überblick
„Girlhood“ (Ausführliche Kritik)
Natürlich meint „Girlhood“ auch die Klischees, eben um die überall konventionalisierte Struktur des Jugendlebens und Erwachsenwerdens aus dem Coming-of-Age in ein doch analysierendes Abziehbild dieser hier agierenden Mädchen zu formen. Es ist neu, obwohl es überlang, akkurat, flussaufwärts, gewaltig, laut, fragend ist. Ganz wie diese vier Mädchen und besonders das in ihrer neuen Mitte. Marieme taufen sie kurzerhand Vic – für Victory, den Sieg oder Triumph über das alte Leben. Für das Geld, welches sie Kindern vor ihrer alten Schule abziehen, kaufen sie einmal eine Nacht in einem Hotelzimmer, schalten den Fernseher an, fahren den Ton hoch und schlüpfen in die gestohlenen Kleider aus einem Einkaufszentrum, an denen noch die Sicherheitsmagneten baumeln. In der Retrospektive bestimmt Céline Sciamma in dieser Szene, die so prägend für ihren gesamten Film ist, was es mit der Findung von sich selbst auf sich hat.
„Grace of Monaco“ (Ausführliche Kritik)
Als obskur pittoreskes Etwas ohne einen tieferen oder gar tiefschürfenden Sinn, der sich nicht entfaltet, weil er schlicht nichts zu entfalten hat (vielleicht allemal Tim Roths Hände, die immerzu in seinen Hosentaschen lungern und dabei die staatstragenden Geschäfte des Fürsten Rainier verkörpern sollen), meint es Olivier Dahan in kompetenter Frucht- und Fleischlosigkeit sichtlich ernst mit dieser Parabel um ein Märchen, dem schließlich nur noch das weiße Roß und ein zündendes Tontaubenschießen fehlt. Das Prinzip von völliger Egalität dem Gezeigten gegenüber in holder Perfektion. Aber vom Trauer- zum Lustspiel und wieder zurück scheint es dann doch ein rasanter Ritt zu sein. Zumindest für Nicole Kidman – milden Buhrufen nach der ersten Vorführung in Cannes zum Trotz.
„Mr. Turner“ (Ausführliche Kritik)
„Mr. Turner“ nennt Leigh seine Erzählung simpel, obwohl sie nicht simpel ist: Ihr Reiz rückt aus dem Stillstand – und nur aus dem Stillstand heraus schäumt sie auch. Es ist ein beinahe langsames Unterfangen, ein Narrativ ohne die Hektik etwaiger filmischer Biografien, die abhandeln, um abgehandelt zu haben, aber den Kern vergessen. Manchmal sogar stellt Leigh die Frage, ob dieser Mensch für die damalig introvertiert steife Gesellschaft nicht zu viel, nicht zu unmöglich gewesen wäre. Eine Tour de Force des sonst leider hinlänglich in Nebenrollen agierenden Timothy Spall ist es wohl jederzeit. Obgleich „Mr. Turner“ den Topos ausführlicher Biografien nicht immer geschickt umschifft, blendet die archaische Unförmigkeit und Spezifität dennoch und blitzt permanent um Leighs prächtiges Sittengemälde – nicht nur eines Mannes, sondern eines Standes. Als Turner stirbt und sein verschmähtes Dienstmädchen in tiefer Trauer zwischen seinen Gemälden einen Halt zu finden versucht, platzt dann der letzte Speck von Mike Leighs Erzählung über den Menschen Joseph Mallord William Turner.
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