Die wuchtige Masse eines Mannes kratzt über den Bordstein. Ein Räuspern entfährt seiner Kehle, ob nun als Laut des Verstehens, Laut der Ignoranz oder lediglich: als Räuspern. Es brennt nach und es brennt herb. Wie ein Leitmotiv scheint es manchmal; oder manchmal auch widerum nicht, wenn es im viktorianischen England schwirrt und den Kropf sogleich nachschleift. Der Laut – häufig atonal, gleich eines Hundes, den man in einer steinigen Sackgasse auf den Tod wartend zurückließ – entfährt einem Kauz, den wohl nur ein Mike Leigh, ebenso ein formidabler Ulk von Mann, auf die Leinwand hätte bringen wollen und hätte bringen müssen. Mit einer Produktionsgewalt, dass die Gemälde des hier präsentierten Joseph Mallord William Turners seltsam in der Gegenwart ankommen, derer sie sich immer bewusst waren. So elegisch, mit einer Grazie, einer Magie und in Prismen, welche in sirenenhafter Melodie vor- und zurückstoßen und fortwährend um den Meister aller romantischen Malerei zirkulieren. „Mr. Turner“ nennt Leigh seine Erzählung simpel, obwohl sie nicht simpel ist: Ihr Reiz rückt aus dem Stillstand – und nur aus dem Stillstand heraus schäumt sie auch. Es ist ein beinahe langsames Unterfangen, ein Narrativ ohne die Hektik etwaiger filmischer Biografien, die abhandeln, um abgehandelt zu haben, aber den Kern vergessen. Manchmal sogar stellt Leigh die Frage, ob dieser Mensch für die damalig introvertiert steife Gesellschaft nicht zu viel, nicht zu unmöglich gewesen wäre. Eine Tour de Force des sonst leider hinlänglich in Nebenrollen agierenden Timothy Spall ist es wohl jederzeit.
Dabei ist es nicht nur ein Mr. Turner, der den Film und erst die rigorose Konzeption eben diesen verwaltet. Immerzu kehrt Turner zu seinem Vater zurück, einst Barbier und nun eine Art eifriges Dienstmädchen für allerlei Malereibelange seines Sohnes. Sie sind einander eng, selbst in der schroffen Unnahbarkeit, wenn es mehr nach genetischer als familiärer Verbundenheit wirkt. Dieser Turner ist Individualist, er setzt durch, was er für richtig und radiert durchaus aus, was er für falsch hält. Manchmal spuckt er auch darauf – selbst auf seine Gemälde mit einem übellaunigen, rotzenden Laut, welcher in den Szenerien nachhallt. Wer ihn liebt, der kann gepeinigtes Sexualobjekt oder zunächst provisorisches Reiseziel werden; der kann an das Bücherregal gedrängt und in unformulierten Bewegungen genommen werden. Eine animalische Rhythmik entbrennt dann in Turner und sein Knurren reibt sich an sexueller Gestik. Einem früheren Helden Mike Leighs ist er in jener motorischen Reibung seltsam gleich. Denn wie der Tagträumer Johnny, der sich in „Nackt“ immerzu aus den Verpflichtungen mogelt, sein Bein munter nachschleift und die Gassen entlang hopst: Da scheint das unrhythmische Geschwirr Turners nicht fern, dessen Gang zugleich nach außen und innen wippt und den Körper in die Welt zieht. Überhaupt kommt „Mr. Turner“ ebenso eines Puzzles über Motorik und ihrer künstlichen Verschlungenheit mit der Sprache nahe. Die Psyche der Protagonisten spielt zunächst nur eine Rolle entlang formaler Randpositionen. Ihr Schema wagt schließlich erst auszubrechen, als Turners Dilemma in seinen künstlerischen Schaffensprozess und dahingehend die Symbiose aus Kunst und Kunstwerk offensichtlich wird.
Bildgestalter Dick Pope (ein Altbekannter aus Leighs Werken) komponiert dies in kinematografischer Dramaturgie, die nicht von Kontext, sondern erst nur von Leben zeugen. Sie besitzen – wie man so gerne sagt – Gravitas; Augenblicke, deren überhöhte Stilistik zwischen Dickens’schem Überdruss und klassischer Artikulation in dicken Öl-farbenen Pinselstrichen schwanken. Darin blendet Pope aber ebenso, wie er eindrücklich verzaubert. Sein ätherisches Äußeres muss spät entsprechend schöpferische Annäherung in der Natur seiner Figuren finden, die wie ein wunder Punkt entlang dürrer Dialogregen tanzen. Wenn sie sich dann kratzen – dafür braucht es gar nur sie selbst – dann kratzen sie mitten in die schon schorfige Haut (Turners Dienstmädchen, wundervoll verkörpert von Dorothy Atkinson, erfährt mit umso längerer Laufzeit daher einen Ausschlag und die Pustel entstellen sie umso mehr). So kommt es dann auch, dass die Verhältnisse zueinander immer ein wenig am Herzen und auch am Kopf vorbei fließen. Die aus Leigh-Filmen so bravourös bekannte Arbeiterklasse weicht hier dann auch nur indirekt der akademischen Künstlergesellschaft. Den Konflikt zwischen regulärem Arbeitertum und exquisitem Kulturdiskurs strukturiert Leigh dafür lediglich als Beihilfe zur Führung und Charakterisierung seines Mr. Turner. Diese Kunst nämlich, die ist aktiv Arbeit, die kommt nicht zufällig, weil man entspannt seinen Pinsel und seine Gedanken schweifen lässt, die ist so roh, dass sie in Turner allein der Statur und des zerfahrenen Unterschichtendialekts wegen ihren Meister finden musste.
Ebenso komplex manövriert Spall ihn durch das Werk, mit der anhaftenden Anmut (!) eines Verschmähten, dessen Grunzen in Amüsement und sanfte Griesgrämigkeit wandern. Obgleich „Mr. Turner“ den Topos ausführlicher Biografien nicht immer geschickt umschifft, blendet die archaische Unförmigkeit und Spezifität dennoch und blitzt permanent um Leighs prächtiges Sittengemälde – nicht nur eines Mannes, sondern eines Standes. Als Turner stirbt und sein verschmähtes Dienstmädchen in tiefer Trauer zwischen seinen Gemälden einen Halt zu finden versucht, platzt dann der letzte Speck von Mike Leighs Erzählung über den Menschen Joseph Mallord William Turner. Diese Momente erzählen ganz unromantisch von der Liebe, die manchmal nicht zu greifen ist, obwohl sie schon ohne Worte auskommt. Mehr noch sagen sie über die Kraft einer Geschichte, die sich nicht an den Zugbügeln von Etappen hängt. Die Geschichte des Mr. Turner kommt ohne die Schnelllebigkeit aus, aber niemals ohne ihren Stillstand. So sehr ungreifbar sie ist, so sehr erinnert sie gleichsam an Stanley Kubricks „Barry Lyndon“. Ein offensichtlicher Vergleich, aber niemals zu gering.
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