Es wird einem schnell bewusst, mit was man es hier zu tun hat: Da sind ein paar ältere Jungs, die jüngeren einen Blick durch ein Teleskop gegen Bezahlung erlauben. Der Blick in die Ferne, das Ungewisse und das Unbekannte reizt die jungen Gemüter der dargestellten britischen Arbeiterklasse. Die Sehnsucht, aus dem auszubrechen, was sie nicht selbst als ihr Zuhause erklärt haben, aber dennoch gezwungen sind, zu leben. Doch sie sehen nur Sterne, statt dem großen Planeten „mit den Ringen“, der, wie die Älteren wissen, der Saturn ist. „Still Stars“ sind es für die Jüngeren, die vielleicht noch nicht begriffen haben, in welchen sozialen Missständen sie leben. Für Liam allerdings, dem Protagonisten, ist vollkommen klar, was vor sich geht. Denn er stellt die Frage, wie lang ein Tag auf dem Saturn dauert. Zehn Stunden und vierzehn Minuten, seine Antwort und das bedauernswerte Resümee seines Freundes Pinball: „There’s not much time, young man.“ Und auch das Leben von Liam hat nicht mehr viel Zeit – denn er will etwas ändern.
Als Liam (Martin Compston) seine Mutter Jean (Michelle Coulter) im Gefängnis besucht, wird ihm wieder eines klar: Es muss sich etwas ändern. Und so fasst er den aberwitzigen Entschluss, sich gegen alles zu stellen, was ihn bisher einschränkte. In dem Vorhaben ein kleines Häuschen, eine Mischung aus Wohnwagen und Ferienhaus, für seine Mutter und ihn zu kaufen, beginnt er mit Drogen zu dealen. Jene klaut er von seinem Stiefvater Stan (Gary McCormack) und verkauft sie als Kleindealer. Dann aber werden der lokale Gangsterboss und seine Gang auf ihn aufmerksam, die ihn unter ihre Fittiche nehmen. Dadurch wird er zu dem, was er an seinen Stiefvater immer verachtet hat.
Ken Loach demonstriert in seinem Film „Sweet Sixteen“ das Leben der Jugend in einer Sozialsiedlung, ausgesucht an Extremen. Liam ist ein durchschnittlich intelligenter, aber ehrlicher Mensch, der durch das System ausgebeutet und vernachlässigt wurde. Seit neun Monaten sah er keine Schule mehr von innen, sein Vater ist sonst wo, seine Mutter im Gefängnis und die ältere Schwester mit siebzehn Jahren bereits alleinerziehende Mutter. Dieses allegorische Extrem erscheint in seiner simplen Aufzählung ein übertriebenes Konstrukt zur Erhellung jener Missstände, die nach dem Thatcherismus so kompetitiv im „New British Cinema“ Gegenstand waren. Doch Loach versteht es als einer der wenigen lebenden Filmemacher, diese sozialen Schichten als Ganzes zu betrachten und nicht an einem ausgesuchten Exempel zu manifestieren, obgleich er es als Beispiel anbringt. Liam ist mit fünfzehn Jahren ein besonderes Individuum, um in diesem Kontext dargestellt zu werden. Er lebt in einem emotionalen Chaos, welches er nicht im Stande ist zu ordnen. Nur zwei Dinge sind allgegenwärtig: Liebe und Geborgenheit. Daraus resultiert für ihn der unbändige Wille nach einem besseren Leben. Mit seinen blutjungen fünfzehn Jahren ist es für ihn etwas vollkommen Neues Verantwortung zu übernehmen. Am Anfang lässt er sich von seinem Stiefvater so weit unterdrücken, dass er selbst für ihn Drogen in ein Gefängnis schmuggelt. Aber als er sich der Bedrohung und der falschen Intention dahinter bewusst wird, rebelliert er. Hier selektiert Loach direkt den willenlosen Teil seines Protagonisten und lässt ihn als Individuum bestehen.
Dieser neue Lebensgeist, der sich als gleichsamer Untergang entpuppen wird, ist für Liam der Antrieb, sich gegen bekannte Gepflogenheiten zu stellen und eigenständig zu denken. Nach seinem Rausschmiss von Zuhause lebt er bei seiner Schwester, unheilvoll, weil unverstanden. Die Siebzehnjährige ist ein ebensolcher sozialer Außenseiter wie Liam. Als alleinerziehende Mutter eines Jungen lebt sie zwar selbstständig, ist aber genauso emotional verrottet wie ihr Bruder. „They won‘t take you back at school?“, fragt seine Schwester, während sie ihm die Wunden versorgt, die ihm sein Großvater und Stiefvater zugefügt haben. „I‘m not up for review till Mam gets out“, die wirre Antwort von Liam. Um sich ausleben zu können beginnt er mit der umgekehrten Schlussfolgerung einer klugen Entscheidung: einer Dummen. Er beginnt zu dealen und gerät alsbald in einen Sumpf der Vergessenheit und des kriminellen Vollzeitlebens. Die Perspektiven verschließen sich, Liam ist gefangen. So gefangen, dass ein Mord ein Mittel zum Zweck wird. Und dennoch bleibt seine Seele unberührt – reines Glück. Seine Idylle findet er in einem Wohnwagen. Klein, abgelegen, mit Blick auf den Fluss Clyde. Auch hier stehen wieder Geborgenheit und Zusammenhalt an erster Stelle. Als er den Essbereich als relevanten Punkt, als einen Platz mit einem „Tisch, an dem sechs Menschen Platz haben“ beschreibt, verfliegt der böse Hintergedanke, mit welchem Geld all dies erreicht werden soll, schnell. Für diesen Traum ist er bereit alles zu tun – und er tut alles, außer seinen Traum zu erfüllen.
Doch als eben dieser Traum zerplatzt, zerreißt auch etwas in Liam. Eine Schlüsselszene des Films findet sich, als der Junge samt Schwester, Kind und Freundin an das verbrannte Idyll treten und voller Grausamkeit die letzten Fortschritte sinnbildlich eingestürzt sehen. Da ist nichts Schönes mehr, nichts Erfreuliches. Der Zweck, der einst die Mittel geheiligt hat, ist verschwunden und jene Mittel sind nur noch reine Böswilligkeit. Der materielle Verlust des Protagonisten evoziert keine großen Mitleidsgefühle, sondern reine Resignation. Und auch selbige Resignation erlebt Liam und stürzt tiefer in die Geschäfte der Mafia. Nun jedoch erscheint ein neues Ziel für ihn: Er hat die Chance eine eigene, saubere und luxuriöse Wohnung für sich und seine Mutter zu erhalten. Das einzige was er tun muss ist es Pinball auszuschalten. Ein neuer selbstreflexiver Clinch zwischen seinem Wunsch der Unabhängigkeit und der Verantwortung. Wieder allerdings ist Liam vom Glück gezeichnet und ein Gewinner.
Um das Individuum bestehen zu lassen positioniert sich Ken Loach als einer der wichtigsten Regisseure unserer Zeit. Neben Mike Leigh ist er der Vertreter des britischen Sozialdramas und des „New British Cinema“. Er versteht es den Schmerz des Lebens von Menschen zu fokussieren und zu kanalisieren, als Ausweg offeriert er nichts. Seine Figuren sind nur ein Hauch im Wind, doch so standhaft, dass sie nicht davon wehen und in Vergessenheit geraten. Denn wichtig sind nur die Menschen, in Filmen, die von Menschen handeln. Selbstreflexion ist kein Maßstab für Menschen, dafür aber die Selbstzerstörung. Der gepeinigte Schmerz, der die Menschen in die Knie zwingt und die Realität bestimmt. Loach erstellt keine gestellte Realität, er zeigt, was er sieht und was er sieht, das ist vorhanden. Doch anstatt sich dieser Realität zu stellen, ist es eine Macke der Charaktere, den Schmerz zu verdrängen, anstatt ihn zu verstehen.
Seinen Titel stellt Loach als abgrundtief böses und sarkastisches Schild über den Film: „Sweet Sixteen“ brüllt es einem entgegen und man könnte denken, es handle sich um eine süße Teenie-Komödie aus Amerika, mit Miley Cyrus in der Hauptrolle. Doch süß ist hier eigentlich gar nichts. Liam ist zu Beginn des Films fünfzehn Jahre alt, in genau sechs Wochen wird er sechzehn, einen Tag vorher wird seine Mutter aus dem Gefängnis entlassen. Welch wunderbares Geschenk. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, als sich dieser Tag nähert. Die schöne aufbereitete Wohnung ist nur ein Zwischenstopp für die entlassene Mutter, die sich schnell wieder bei ihrem Freund Stan einnistet. Im alten Trott wieder gefangen. Der Tag, an dem Liam Geburtstag hat, ist der Tag, an dem alles dem Ende zugeht. Mit großer Sensibilität gelingt es Loach und Paul Laverty als Drehbuchautor den Weg, der sich bis hierher gelegt hat, zu einem Ende zu bringen. Zum Schluss steht Liam am Fluss Clyde, blickt mit den Händen in den Taschen seinem Ende entgegen. Kein endgültiges Ende, nein. Doch das Ende für eine lange Zeit. Ungewiss, wie es für ihn und seine Familie ausgehen wird. Süß, wahrlich. Doch bittersüß.
Der fast dokumentarische Stil von Loach macht den Film so lebensnah und die beruhigenden Bilder, übertragen durch lange Einstellungen, suggerieren den Eindruck des Dazugehörens. Niemand wird ausgeschlossen, wenn er diesen Film sieht. Mit Drehbuchautor Laverty gelingt Ken Loach dieser erneute Blick in die gepeinigten Seelen der Arbeiterklassen. Doch er kritisiert nicht plakativ das System, sondern gesellt sich freundschaftlich an die Seite der Personen, die er in ihrem Leben zeigt und scheitern lässt. Denn so einfach es gewesen wäre, den leichten Weg zu gehen, der richtige ist besser.
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