Der rote Teppich führt immer aus dem Meer und ragt in den Himmel. Auf gläsernen Stufen geht es aufwärts, Stufe um Stufe, Schritt um Schritt, vorbei am Nichts, hinein in die Sterne. Ein jeder Film der offiziellen Sektion des Festival de Cannes beginnt auf diese Weise, wie ein jeder Film folgend seinen Weg in das Herz, den Kopf oder beides zugleich einschlagen soll. Freilich, den wenigsten mag gelingen, was sie ursprünglich versuchten zu erreichen. Denn zuvor gilt es – Stufe um Stufe, Schritt um Schritt – einen Zeitgenossen zu überzeugen, der gemeinhin für unüberzeugbar gehalten wird: nämlich der Filmjournalist. Und von dieser Gattung gibt es alljährlich in Cannes eine ganze Menge. Es gibt sogar so viele, dass ein anderer Filmjournalist geringerer Relevanz oftmals mit größter Sorge und bangem Blick die Warteschlange von nebenan observiert, in dem sich der Kollege höherer Hackordnung einfindet. Nun war ich für zehn Tage ein Gelber, aber nicht mehr grün hinter den Ohren. Das System ließ sich schnell durchschauen: Da gab es die Pressemeute mit weißem, jene mit rosafarbenem (wahlweise mit oder ohne gelben Punkt), jene mit blauem und schließlich jene mit gelbem Ausweis. Gelb heißt auch, man hatte Glück genug, sich überhaupt in die Schlangen einreihen zu dürfen. Nun denn: ab in die Sterne!

Und in die Sterne ging es. Zwar nicht sogleich – denn zunächst folgte eine Art fixes Warm-up am ersten Tag, als es notgedrungen (aber hoch erfreut, das sollte ich doch bemerken) in den Eröffnungsfilm „Grace of Monaco“ ging. Wenn man nun über den gemeinen Filmjournalisten wirklich etwas erfahren wollte, dann wartete man immerzu auf den Abspann. Aber nicht immer war der Abspann auch notwendig. Im Falle von Olivier Dahans Versuch einer glamourösen Aufarbeitung des Lebens der Grace Kelly sollte allgemeines Stöhnen und Keuchen bereits während der Vorführung Kommentar genug sein. Dies war der Filmjournalist, wie man ihn kennt. Der Filmjournalist, wie man ihn nicht kennt, kann aber auch anders: Er kann jubilieren, er kann weinen, lachen, applaudieren. Vielleicht zeigt sich aber auch der Terminus Filmjournalist grundsätzlich ungeeignet, uns Auserwählte zu beschreiben. Eigentlich lieben wir doch nur Film. Und wir finden uns für zehn wundervolle Tage zusammen, um diese Liebe in prachtvoller Kulisse (das Meer, die Palmen, die Sonne!) neu zu entdecken. Jahr für Jahr. Manche kennen sich seit gefühlt 1973, manche erst seit fünf Minuten. Aber man spricht dieselbe Sprache. Und manchmal erblühen die Herzen gemeinsam im Takt eines einzigen Films.

So geschah es spät bei Xavier Dolans „Mommy“ am bereits zehnten Tag, dass einige Hundert Journalisten und Filmschaffende aufgeschreckt in ihren Sitzen ruckelten, weil sie sahen, was sie neun Tage zuvor immer hofften, sehen zu können. Nun, es wird nicht allen gleich ergangen sein. Aber mir schlug der Rausch des Lebens in seinen Facetten entgegen: der Schmerz, die Tragik, das Scheitern, die Freude. Als der Protagonist Steve (Antoine-Olivier Pilon) in wilder Euphorie die Straßen entlang fegt, öffnet sich plötzlich das zuvor quadratische Format. Es stößt ein Tor auf in die Welt des Cinemascope. Und es stieß mein Herz mit Wucht in Emotionen, die ich vielleicht bei einem Film von neunundneunzig empfand. Plötzlich war ich hellwach und doch erledigt. Weil sich die Strapazen von zehn Tagen konzentrierten Filmsehens und -rezensierens zeigten. Und, weil ich den baldigen Verlust spürte, den das Ende des Festivals mit sich bringen würde. Ich war hier unter Palmen, um zu arbeiten – und es fühlte sich mehr nach einem Roadmovie in Länder, Sitten und Kulturen an. In Cannes sieht man noch die Welt, ohne, dass sie jemand einem vorher beschrieben hätte. Welch wundervolles Gefühl!

Wie seltsam aber doch gleichsam auch die Diskrepanz zwischen wirklicher Reaktion und später publizierter ist. Da hörte ich im Nachhinein von einem aufgelöst buhenden Publikum bei Ryan Goslings Debüt „Lost River“. In Wirklichkeit aber erstarb jegliches Missfallen rasch (sehr zu meinem eigenen Missfallen), während stattdessen Applaus entbrannte, der sicher nicht am lautesten, aber doch eigenartig treibend war. Es ist nur ein Beispiel von vielen, dass die Geschichten meist nicht in Cannes, sondern in den Köpfen der Journalisten selbst geschrieben werden. Obwohl es sonst so viel zu erzählen geben würde: Wie ich kurz davor war, in Damien Chazelles „Whiplash“ (eine kleine Sensation!) meine sonstige gelassene Sitzhaltung über den Haufen zu werfen und dafür im Takt zu klatschen; wie ich meinen Vordermann in Lisandro Alonsos wirr anstrengendem „Jauja“ schüchtern fragte, ob er nicht seinen Kopf ein wenig von den englischen Untertiteln weg bewegen könnte und ich ihn eigentlich viel lieber angeschrien hätte; wie ich mein Smartphone am ersten Tag verlor, als ich mit der Fähre nach Île Sainte-Marguerite düste und somit den von vielen sehr geliebten „Timbuktu“ des mauretanischen Regisseurs Abderrahmane Sissako verpasste; wie ich spät Tim Roth an der Croisette begegnete und ich so filmtrunken war, dass es nicht zu mehr als einem müden Blick reichte.

Darin sind die Filmfestspiele von Cannes wie ein jedes Festival auf dem Globus: Sie laugen aus, bis Körper und Geist nur noch in Automatismen funktionieren. Doch gleichzeitig sind die Filmfestspiele von Cannes auch ganz und gar nicht wie ein jedes Festival auf dem Globus: Sie erobern einen zurück, bis man nicht mehr zurück möchte. Eine surreale Landschaft erstand Tag für Tag, wenn ich mit schweren Beinen vom Bahnhof in Cannes zum Palais des Festivals schlurfte. Hier lebt bei aller Misere um das Medium Film doch eben dieses lauthals auf. Weil die Menschen Film noch immer lieben – und weil sie bereit sind, ihn zu feiern, selbst wenn er ein Stück weit irrelevant ist. Da klatscht das Publikum aus lauter Freude am Leben sogar bei Ken Loachs fruchtloser Studie über den Kommunisten James Gralton in „Jimmy’s Hall“, als sich der Abspann irischer Folklore bedient. Manchmal sogar klatschte man auch mitten im Film. Wie bei Andrei Swjaginzews „Leviathan“, der bei aller biblischen Tragik um den scheiternden Kolja einen Vodka-getränkten Humor präsentierte, dass der Barentssee zufrieren müsste. Einmal ziehen Freunde und Familie Koljas hinaus für einige Schießübungen, für die sie die Porträts ehemaliger russischer und sowjetischer Führer eingepackt haben. Das Bildnis Putins aber, das stellen sie wieder zurück, es wäre noch nicht reif dafür. Denn das hängt ja schließlich noch in der Amtsstube des korrupten Bürgermeisters. Und das Publikum brüllt. So sieht schließlich Unterhaltung made in Cannes aus!

Eine beliebte Debatte handelte jedoch auch immer … vom Wetter. Ja, tatsächlich. Da gab es letztes Jahr so gar nicht eitel Sonnenschein, dieses Jahr dafür umso mehr. Bis auf diesen einen Tag, als es sich während Michel Hazanavicius’ öder Karambolage „The Search“ im Salle Soixantième so weit in Kübeln ergoss, dass sich niemand mehr sicher war, ob die Klangkulisse nun vom Film oder doch von außen herrührte. Entgegen des Films war jeder froh, im Trockenen zu sitzen und nicht in einer Warteschlange weilen zu müssen. In diesen verbrachte ich wohl ebenso viel Zeit wie in den Filmen selbst. Es machte nichts. Es machte nichts, weil ich erstmals in Cannes war. Es machte nichts, weil ich jeden Tag und auch jeden Film, egal wie furchtbar, wie gestreckt er war (und aus dieser Sparte gab es einiges), aus tiefstem Herzen nur genießen konnte. Schreitet man einmal die Stufen zu dem wundersamen Grand Théâtre Lumière hinauf, verändert sich für einen kurzen, banalen Moment das Leben. Das zuvor quadratische Format platzt auf und lässt das Cinemascope herein. Eben wie in Xavier Dolans „Mommy“. Als ich wieder in München landete, wusste ich, dass dies niemals mein erster und einziger Besuch bei den Filmfestspielen von Cannes gewesen sein konnte. Au revoir, merci und à la prochaine!

Die persönlichen Gewinner der Goldenen Palme

Für das Leben in voller, wundersamer Blüte
Mommy“, Xavier Dolan

Für die schnellste Länge, die unendlich viel erzählt
Winter Sleep“, Nuri Bilge Ceylan

Für eine starke Frau, obwohl sie so schwach scheint
Zwei Tage, eine Nacht“, Jean-Pierre und Luc Dardenne

Für eine Intensität über die Leinwand hinweg
Whiplash“, Damien Chazelle

Für Patty Pravo, Raffaella Carrà und den Lolli
Xenia“, Panos H. Koutras

Für die ausblutende Ziege in unsteten Gewässern
„Still the Water“, Naomi Kawase

Meinungen

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