Wenn Film nur eine einzige Sequenz wäre, dann würden in jener aus Abderrahmane Sissakos „Timbuktu“ junge Männer in bunten Shirts und Hosen nach einem Ball hechten, den es nicht geben darf. Weil sie ihn aber dennoch sehen, lupfen, passen, schießen sie, als ob das Spiel nur ihre Beine und ihre Imagination vorsieht, bis zwei Terroristen auf einem Motorrad das sandige Feld kontrollieren. Unter den islamischen Fundamentalisten in der Oasenstadt Timbuktu darf es selbst diese Vorstellungskraft nicht geben. Da soll vielmehr eine Fischverkäuferin Handschuhe und die Frau generell Schleier tragen, jeder Klang in den Straßen und jedes Trommeln im eigenen Heim verstummen. Wenn nötig mit anderweitiger Gewalt. Mit Steinen und Peitschen. Die Freude am Leben geht nicht d’accord mit dem Dschihad. Bei Sissako türmen die Menschen aber nicht, wie Menschen in Filmen oftmals einen Aufschrei wagen – was zerfällt, splittert in einem langsamen Prozess von den alltäglichen Routinen ab.

Auch das Leben des Hirten Kidane (Ibrahim Ahmed) untersteht einem Wandel, obwohl dieser fern der malischen Stadt höchstens die Freiheit der Isolation fürchtet. Einzig seine Frau Satima, deren gemeinsame zwölfjährige Tochter Toya und der Waise Issa wagen dort noch in offenen Zelten und mittels weniger Kühe ein ärmliches, doch scheinbar erfülltes Dasein, welches zunächst nur hin und wieder von einem Dschihadisten unterbrochen wird, der Satima heimlich begehrt und immer dann vorfährt, wenn ihr Mann unterwegs ist. Schließlich allerdings folgt der Kollaps, als ein Fischer am nahen See eine Kuh tötet, weil diese in seine Netze geriet. Diese Kuh ist jene Issas, der sie von Kidane erhielt. Ein Schmuckstück, allein schon des hoffnungsfrohen Namens nach. GPS nennt die Familie sie. Und es stimmt: Die Kuh navigiert anhand ihrer Position sowohl Freund als auch Feind, Gerechte als auch Scheinheilige. Alles entlädt sich in ihr und durch sie. So wie Kidane die Rache sucht, bis auch er einem Protokoll weichen muss, das einer widersprüchlichen Interpretation des Koran folgt.

Es ist dann auch kein Kampf – nur ein schwindelnder Fall ins Wasser, den Bildgestalter Sofian El Fani später als nacktes Handgemenge einer Totalen definiert, welche zwei Männer wie Fische fasst, die letztlich aus den jeweils gegenüberliegenden Bildrändern fliehen; kriechen, beide in den Tod hinein. In diesen Tableaus naher doch ferner Komplexität chiffriert Sissako die Leben weniger exemplarischer Menschen: einer weißen Geisel, eines ehemaligen Rappers und nun Fundamentalisten, einer offensichtlich Irren und eines unverheirateten Paares. „Timbuktu“ handelt zwar von ihnen, wendet sein Narrativ allerdings dem Zündfunken um das Schicksal Kidanes und seiner Familie zu, obwohl dieses lediglich eine primär emotionalisierte Tragödie fokussiert und nicht die ansonsten subtile Lakonie demonstriert. Gerade im Hinblick auf das humanistische Sozialspannungsgefälle der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne (aktuell mit „Zwei Tage, eine Nacht“) fordert der Film eine von wesentlichen Allegorien befreite Sicht, ohne eine Organik abseits des formal Präzisen zu bieten.

Was Abderrahmane Sissako jedoch in eindrücklichen, geradezu eleganten Szenarien öffnet, ist der Mensch an sich, welcher selbst in solchen unwürdigen Abhängigkeitsverhältnissen aus dem Leben schöpft und entgegen aller Verbote das Risiko als Chance für die Zukunft fixiert. Dort fungiert auch „Timbuktu“ nicht als politische Lektion, sondern als makelloser Fokus für die Hoffnung. Immerhin verstehen sich die Bewohner der Stadt untereinander, die Dschihadisten aber hantieren in einem Wirrwarr aus Arabisch, Bambara, Tamasheq, Französisch und Englisch. Kein Wunder also, dass ihr Verständnis nur eines direkt über die Gewalt sein kann.

Meinungen

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