Plötzlich explodiert der quadratische Komplex in füllendes Cinemascope. Das Gefängnisgitter springt in die Freiheit. Und für eine Sekunde wagt das Bild ob dieser Leidenschaft und Energie nicht mehr zu atmen – es stößt sich nur noch langsam von den offenen Seiten ab. In der vorherigen Depression und Aggression wagt Steve (Antoine-Olivier Pilon) die Welt mit Händen zu greifen, wagt den Rücken zu strecken und den Kopf zu heben, wagt sein Leben zu füllen, zu füllen mit Glück. Einen Moment später erlischt der Aufbruch in das unbekannte Etwas. Die Weite bricht in sich zusammen. Wieder lebt Steve im Quadrat – es kann ihn kaum fassen. Aber er kämpft und kämpft für diesen einen Moment. Damit er wiederkommt, damit er nicht einzigartig ist, damit er Hoffnung bleibt und Zukunft ist. Steve ist fünfzehn, süße fünfzehn. Doch Steve ist nicht süß. Steve ist der Sohn, den eine Mutter am liebsten einsperren würde. Denn Steve ist: impulsiv, ungestüm, exzessiv, einsam. Steve ist eine Bedrohung für seine Umwelt. Doch lächelt er einmal dieses süße Lächeln eines fünfzehnjährigen Jungen, der die Welt nicht versteht, dann kann er sagen, fluchen, schlagen, wie und was er will. Denn dann ist Steve der Junge, den eine Mutter niemals weggeben könnte.

Diese Mutter ist Diane „Die“ Després (Anne Dorval), dieser Junge ist Steve. Aber auch Xavier Dolan ist dieser Junge, Geneviève Dolan ist diese Mutter. Dieser Junge ist fünfzehn, dieser andere Junge ist fünfundzwanzig. Aber Steve ist nicht Hubert, jener Protagonist, den Dolan selbst in seinem Debüt „I Killed My Mother“ mimte und der seiner Mutter immerzu ins Gesicht spuckte: „Ich hasse dich.“ Das war 2009 – es wirkt mit der fanatischen Schöpfungsenergie des Xavier Dolan wie eine Ewigkeit in fünf Jahren. Freilich funktioniert auch „Mommy“ wie jede seiner vorherigen vier Arbeiten: immer ein wenig zu sehr Experiment, zu sehr Form, zu wenig Substanz, zu wenig Universum, zu sehr Ego. Und doch ist es ein großer Film, gerade weil es ein kleiner ist: einer über die kleinen Fragen des Lebens und ihre gewichtige, nichtige Bedeutung. Er erzählt von einer persönlichen Beziehung, die unpersönlich und darin für jeden persönlich wird. Weil er von der Liebe zur Mutter erzählt. Weil diese Mutter jeder hat. Vor fünf Jahren noch wollte Xavier Dolan seine eigene Mutter bestrafen. Nun sucht er ihre Rache, wie er selbst gesteht. Aber „Mommy“ sprengt den Rahmen der kleinen Worte und marginalen Intention, wie das Quadrat zweimal ins Cinemascope bricht. Wie banal, dieser Trick in die Weite. Wie unfassbar schön. Wie wärmend, energetisch, frei.

Dabei scheint es niemals ein perfektes Quadrat zu sein, in dem die Protagonisten anecken, eher ein gestauchtes Rechteck oder gleich vielmehr ein Porträt. Die Illusion trügt, obwohl sich des Formats wegen niemand völlig sicher ist. Es kann der schnelle Schnappschuss auf Instagram ebenso wie das betagte Albumcover aus den späten achtziger Jahren sein. Ein bisschen ist es auch wie das ulkige, schwer verständliche Französisch, in welchem sich Die und Steve ankeifen und einander manchmal an die Gurgel gehen, um sich später doch immer zu versöhnen. Québécois nennt man dieses harte, zottelige Würgen mit einer merkwürdigen Spur des Anglofonen. Weil „Mommy“ irgendwo in einem Randbezirk Montréals und den vergessenen Vororten einer nahen Zukunft spielt (wir schreiben das Jahr 2015), darf ein Minderjähriger bereits ohne richterlichen Beschluss auf Anraten der Mutter in staatliche Obhut abgeschoben werden. Steve ist auch dieser Junge, Die ist auch diese Mutter. Ihre Liebe ist die Liebe zweier Verrückter: inzestuös, ödipal, unwiderstehlich, unangemessen. Bis Kyla (Suzanne Clément) von nebenan aus dem Duett ein Terzett formt. Allem Stottern, aller Unsicherheit zum Trotz.

Alle drei sind sie dysfunktionale Außenseiter, weil sie alle drei – um dem White-Trash-Slang des Films zu folgen – ziemlich einen an der Waffel haben. Sie könnten Verlierer sein: Verlierer des Kapitalismus, des Sozialismus, Verlierer des Lebens, Verlierer der Zeit, Verlierer des Moments. Xavier Dolan sieht sie nicht als Verlierer, er imprägniert sie sogar als Gewinner. Und nichts anderes als Gewinner sind sie auch. Als Die zu Beginn des Films einen Antrag unterschreibt, nimmt sie nicht den ihr gereichten Kugelschreiber. Stattdessen kratzt ihr eigener Stift am Schlüsselbund mit all dem bunten Firlefanz über das Papier. Diese Die ist nicht die brave Mutter. Daher kann ihr Sohn auch nur wildes Tier sein. Und Kyla die Stille in der Mitte, die aus der Energie beider endlich wieder ihre eigene speist. Alle drei sind sie Menschen, denen Dolan mehr als einen Augenblick widmet, da sie den Augenblick in ihrer Welt nur unter sich teilen. Es reicht: für sie, für uns, für 139 Minuten.

Denn „Mommy“ ist: anstrengend, ansteckend, schmerzhaft, schmerzstillend, die Pille danach und der Sex davor, die Ohrfeige des Vaters und die Umarmung der Mutter, der Einkaufswagen, mit dem man um die Straßen zieht, die billige Kette aus dem Tante-Emma-Laden, die teuer genug ist, dass man sie noch immer klauen muss. „Mommy“ ist das Leben, wie es imperfekter nicht wird; das einzige Leben, welches leben lebenswert werden lässt. „Mommy“ ist der Moment im Kino, wenn der Kloß im Hals nicht vergehen mag. „Mommy“ ist Liebe, selbst wenn man das geliebte Gegenüber als Fotze tituliert. „Mommy“ ist Film, den es zu ohrfeigen gilt. „Mommy“ ist die Mutter. Und wie mit (s)einer Mutter springt Xavier Dolan mit seinem Film um: rücksichtslos. Weil „Mommy“ der Geburtstagskuchen ist, deren Kerzen ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener Jahr für Jahr in einem Zug versucht auszublasen. Es funktioniert nicht immer. Wie es auch mit „Mommy“ sein wird: Mal liebt, mal hasst man ihn, mal stockt der Atem. Manchmal alles zugleich. Aber „Mommy“ ist auch immer Emotion: das Glück, wenn alle Kerzen erloschen sind; der Frust, wenn eine Kerze noch brennt.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Mommy“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.