Schlaf ist eine Fantasie, der man sich während der Filmfestspiele in Cannes äußerst ungern hingibt. Schließlich könnte man schlafen, wenn plötzlich dieser eine, einzig wahre und absonderlich berauschende Beitrag um die Ecke des Palais biegt. Was zugegeben besonders um 8:30 Uhr passieren kann. Aber nicht geschah. Denn das Wunderwerk (ja, es gab es!) platzte herein, als die Augen den Klimaanlagenkollaps schon hinter sich hatten und der Magen auf Winzkost umgestiegen war. Stattdessen gab es Koffein (allein die Nespresso-Bar zeigt sich überaus variantenreich) und … Nein, eigentlich nur Koffein. Aber ob Kaffee oder nicht: Da wird man flexibel. Bei der Qualität der Filme jedoch weniger: Da wird man irgendwann nur noch mürrisch, ganz ähnlich des Grunzens und Raunens von Timothy Spall in Mike Leighs „Mr. Turner“ (Tag 2 oder so, wage Erinnerung). An Tag 9 war ich soweit, mich nach drei banalst öden Filmen einfach meinem sehnlichsten Wunsch hinzugeben: Schlaf. Ich tat es auch – aber erst nach Film Nummero vier (Andrei Swjaginzews „Leviathan“). Die Kontrollmechanismen funktionierten also noch. Auch die Vier war übrigens weder Fisch noch Fleisch, stärkte jedoch die kühnsten Verdrängungskünste. Denn es kam da was an Tag 10. Plötzlich war es da. Und es ließ viele Qualen vergessen machen (ja, die Qual unter Palmen – welch Luxusproblem!).
Die Rettung hieß (hoffentlich in Folge auch noch ganz wortspielbefreit): „Mommy“. Der Regisseur: ein junger Mann von 25 Jahren, der nicht zum ersten Mal in Cannes ist, aber zum ersten Mal im Wettbewerb die alten Herren aussticht. Er heißt Xavier Dolan. Man kennt ihn schon, man liebt ihn vielleicht. Nach „Mommy“ stellt man beides nicht mehr infrage. Denn „Mommy“ ist: anstrengend, ansteckend, schmerzhaft, schmerzstillend, die Pille danach und der Sex davor, die Ohrfeige des Vaters und die Umarmung der Mutter, der Einkaufswagen, mit dem man um die Straßen zieht, die billige Kette aus dem Tante-Emma-Laden, die teuer genug ist, dass man sie noch immer klauen muss. „Mommy“ ist das Leben, wie es imperfekter nicht wird; das einzige Leben, welches leben lebenswert werden lässt. „Mommy“ ist der Moment im Kino, wenn der Kloß im Hals nicht vergehen mag. „Mommy“ ist Liebe, selbst wenn man das geliebte Gegenüber als Fotze tituliert. „Mommy“ ist Antoine-Olivier Pilon. Der ist süße sechzehn. Aber gleichzeitig auch nicht mehr wirklich süß, wie er da sein Umfeld und sich selbst in heilloser Überforderung in den Wahn treibt. „Mommy“ ist der beste Wettbewerbsbeitrag des diesjährigen Festival de Cannes. So. Es ist raus. Wahrhaftig. Eindeutig. Mögen es mir die Herren Jean-Pierre und Luc Dardenne und der waghalsige Nuri Bilge Ceylan verzeihen.
Folgend mögen mir auch vergeben: Ken Loach, Michel Hazanavicius und Zak Hilditch. Bei dem einen tanzt ein (wohl eigentlich nicht so) irrelevanter Mann im Irland der dreißiger Jahre gegen die Kirchengewalt („Jimmy’s Hall“), im nächsten sucht ein Junge den Frieden und ein anderer den Krieg („The Search“), im letzten ein Mann mit einem Mädchen den richtigen Weg in den Weltuntergang („These Final Hours“). Sie alle bildeten eine Reihe des Vergessenswerten, da sie nicht mehr wagten, mit Gewalt, Verve und Esprit zu erzählen – sie waren schließlich nur noch anwesend. Aber warum sich grämen, wenn man danach Xavier Dolans „Mommy“ sah? Warum sich grämen, wenn man unter Palmen und verrückten Cinephilen in Cannes weilt? Nach „Mommy“ fuhr ich zu meinem Zimmer in Antibes und packte meinen Koffer. Ein Stapel Pressehefte füllte die Leere, welche durch allerlei Riegel (von Müsli bis zu Erdnuss) entstanden war, die ich bereits aus Deutschland nach Frankreich importiert hatte. Dafür war mein Herz voller als zuvor.
Besprechungen im Überblick
„Jimmy’s Hall“ (Ausführliche Kritik)
Einen Ken Loach benötigt das zeitgenössische Kino (leider noch) immerzu. Auf das wir tanzen, wir schwelgen, wir politischer Barbarei nicht verfallen. Und manchmal sogar simple Dialektik hinnehmen, weil es an einer prägnanteren Alternative mangelt, Thematiken immer wieder im Sturm aufzuschnüren. Auch „Jimmy’s Hall“ wiegt die Sozialromantik schwer, schwerer aber, als er sie schultern und nutzen könnte, statt an ihren Plattitüden zu scheitern. Einmal fragt der Kleriker der Grafschaft Leitrim nach der Wahl, welche die Menschen treffen sollten: die Wahl für Christus oder die Wahl für Gralton. Dieser Jimmy Gralton baute einen Saal wieder auf, der die Menschen mehr verband als die Kirche. Ken Loach folgt dagegen einer anderen Strategie, weil hinter offensichtlichen Gefühlen nichts verborgen liegt, dass mehr entdeckt werden möchte. Er öffnet den Sack zu weit für persönliches, ehrliches Interesse.
„Mommy“ (Ausführliche Kritik)
Freilich funktioniert auch „Mommy“ wie eine jede seiner vorherigen vier Arbeiten: immer ein wenig zu sehr Experiment, zu sehr Form, zu wenig Substanz, zu wenig Universum, zu sehr Ego. Und doch ist es ein großer Film, gerade weil es ein kleiner ist: einer über die kleinen Fragen des Lebens und ihre gewichtige, nichtige Bedeutung. Er erzählt von einer persönlichen Beziehung, die unpersönlich und darin für jeden schließlich selbst persönlich wird. Weil er von der Liebe zur Mutter erzählt. Weil diese Mutter jeder hat. Vor fünf Jahren noch wollte Xavier Dolan seine eigene Mutter bestrafen. Nun sucht er ihre Rache, wie er selbst gesteht. Aber „Mommy“ sprengt den Rahmen der kleinen Worte und marginalen Intention, wie das Quadrat zweimal ins Cinemascope bricht. Wie banal, dieser Trick in die Weite. Wie unfassbar schön. Wie wärmend, energetisch, frei. Wie nah.
Meinungen
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