Andrej Swjaginzews neuester Spielfilm „Leviathan“ ist harte, russische Kost, die lange haften bleibt. Wenn Kolya (Aleksey Serebryakov) in der maritimen Landschaft in einer immer schwankenden Gefühlslage zwischen Überlebenswille, Liebe, Enttäuschung und Vergebung taumelnd auf subversive Grenzen trifft, immenser Alkoholismus die Leiden wellenartig verstärkt und lindert, dann bleibt ein äußerst flaues Unbehagen in der Luft. Das Kommen und Gehen von Leben und Tod zeigt sich hier deutlich, eine schier unmöglich bewohnbare, zerstörte Gegend ist das wunde Herz des Films, welches sich ein tyrannischer Politiker namens Vadim aneignen will. Er zieht an sämtlichen Strängen der Korruption und des Missbrauchs von Staatsgewalt, während er sich sein Gewissen und seine Vormachtstellung in Kooperation mit der Kirche wahrt.

Der Mensch ohne Macht, dem selbst der Schutz durch das Gericht verwehrt wird, erinnert ein wenig an Charaktere wie Josef K. oder K. aus Kafkas „Der Prozess“ beziehungsweise „Das Schloss“ – mit dem Unterschied, dass die übermächtige Instanz durchaus bekannt ist und symbolisch durch jenen korpulenten Vadim repräsentiert wird. Das Einzige, was alle miteinander verbindet, ist das Trinken von Wodka, in Zeiten des Feierns, aber auch des Frusts. So treffen beide Seiten alkoholisiert aufeinander, oft spielt der exzessive Konsum eine bedeutende Rolle im bedeutungslosen Alltag der Protagonisten. Wasser ist Wodka.

Bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes wurde das Drehbuch ausgezeichnet, das mit wenigen Dialogen auskommt und dennoch viele Probleme benennt. Die Impulsivität mancher Taten, die Illoyalität und Fehler, resultierend aus verwobenen Teufelskreisen: Sie machen die zielgenaue Wucht von „Leviathan“ aus. Kolya ist ein schnell reizbarer, aber herzensguter Mann, der vergeben kann und niemals aufgibt. Seine tiefe Verbundenheit zu seinem vererbten Landbesitz, insbesondere dem Haus, das von seinen Vorfahren mit Eigenhand geschaffen wie ein Rückzugspunkt aus der Trostlosigkeit wirkt, und seiner Autowerkstatt, ist der entscheidende Konfliktpunkt der Geschichte. Denn zum einen ist es der Ort, den Vadim aufgrund der wirtschaftlichen Möglichkeiten besitzen will, zum anderen birgt das Erbe die Verpflichtung in Kolya, ihn zu pflegen und zu bewohnen. Als nämlich der befreundete Anwalt aus Moskau, der für ihn vor Gericht klagt, ihm anbietet, mit nach Moskau zu kommen, verweigert er dies, doch letztendlich bleibt es gerade ein Wunsch seiner zweiten Frau Lilya (Elena Lyadova), die einer monotonen Arbeit in der Fischerei nachgehen muss.

Wie so häufig bringt die Moderne das Konservative, das Rückständige schnell zu Fall und in „Leviathan“ wird dieser Prozess symbolisch thematisiert. Die Entwicklung der Politik führte früh zu der Dreiteilung in Legislative, Judikative und Exekutive, doch wenn sich die Richter und Polizisten vom Politiker diktieren lassen, weil dieser aufgrund seiner unnatürlichen Spitzenposition systematisch für jede Destruktion sorgen kann, bildet sich das Prinzip eines undemokratischen Systems, welches das Wort korrupt sogar weit untertreibend beschreibt. Politische Stärke sucht Vadim in der Institution der Kirche, und ähnlich wie das Ungeheuer Leviathan wird er dadurch unbezwingbar. Auch die Figur des Moskauer Anwalts ist ein solcher Vorstoß von Modernismus in die immer gleich bleibende, versinkende Welt des nordwestlichen Russlands. Jeder Stoß bringt das Bewahrte weiter in Gefahr, alles, was Kolya je wichtig war, wird angegriffen.

Hervorzuheben ist hierbei die Leistung von Aleksey Serebryakov, dessen innere Achterbahnfahrt immer rasanter wird und der im Meer an Problemen und Alkohol zu ertrinken droht, seinen sturen Kopf aber nicht hängen lässt. Ebenso ist Elena Lyadova für das empfindliche Schauspiel ihrer unempfindlichen Figur zu loben, die ein weiterer, häufig von Swjaginzew verwendeter Ausdruck von Ambivalenz ist. Jeder Schatten wirft Licht und andersherum. Der russische Regisseur ostendiert im Verlauf der Geschichte präzise, wie sich das ländliche, russische Leben abspielt. Er wirft aber keinen Hass an die Wände der Offiziellen, er zeigt eher die Unnahbarkeit der machtlosen, verarmenden Bürger, die in der Wildnis mit Gewehren auf eingerahmte Bilder von Lenin und Co. schießen und zerberstend an jene Wände klatschen wie das Meereswasser an die Klippen. Den einzigen Funken an Hoffnung könnte man noch aus Einstellungen ziehen, in denen ein gestrandetes Knochengerüst eines Wals zu sehen ist, ein toter Moloch, ein von den Fluten des Meeres angespülter Leviathan, dessen Bezwingbarkeit durch den natürlichen oder vielleicht selbstverschuldeten Tod bewiesen wird.

Meinungen

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