Ein Mädchen watet in einen See, Wasser frisst sich Millimeter um Millimeter empor, entlang ihrer Waden, ihrer Oberschenkel, ihres Rocksaums und Schlüsselbeins. Bis zu den pechschwarzen Haaren steht sie schließlich und ballt die Fäuste. Auf ihrem Gesicht Stille, wie sie nur konträr zu den vermutlich eisigen Krallen des Wassers sein kann. Ob sie die das Weite, die erbarmungslose Tiefe aus Sehnsucht wählt? Tui, dieses zwölfjährige Mädchen aus dem Soziotop Laketop, ist schwanger. Doch der Plan inmitten ihrer Sehnsucht scheitert, als sie eine Frau aus dem See fischt.

Die neuseeländische Kleinstadt Laketop allein bleibt sogleich ein gar eigener Charakter in der Tradition von David Lynchs „Twin Peaks“. Berghütten, tückische Vorleben, mysteriöse Schattenseiten überall, Intrigen, Ausgestoßene, Patriarchen und das diffuse Gefühl die Stadt besäße einen Willen, eine zyklische Natur und lenkende Kraft in sich selbst. Haftete „Twin Peaks“ noch das tierische Mysterium des Waldes an – wie es sich der amerikanische Romancier Nathaniel Hawthorne vergegenwärtigt haben mag –, zirkuliert Jane Campions sechsteilige Miniserie „Top of the Lake“ nun um einen Kern schönster Wälder, Gipfel, und natürlich jenen ominösen, verhängnisvollen See. Dieser nimmt uns gefangen und erstickt mittels der Macht des kleinen Städtchens jede Hoffnung oder Erlösung gegenüber diesen dort lebenden, dort gefangenen Charakteren. Denn der Tod kriecht ihnen wie ein gebrochenes Versprechen oder die Spitze eines Kajaks entgegen.

In der Natur gibt es keinen Tod, nur eine Umordnung der Atome.

GI

Gleichwohl schlägt „Top of the Lake“ eine Entität ohne Verbindungsstränge zu „Twin Peaks“ an und dient daher vielmehr als jüngerer Ableger. Im Mittelpunkt der unermesslichen, subsumierenden Tragödie fiebert eben jene Tui Mitcham, sanft verkörpert von Jacqueline Joe, dem Ertrinken entgegen, der letzten Ausflucht – weder aus einer Depression noch aus einer geistigen Beeinträchtigung heraus, sondern dem einzigen Bewusstsein, welches sie noch trägt. Der just nach Laketop zurückgekehrten Robin Griffin (Elisabeth Moss) übergibt man den Fall, da sie sich zufällig auf sexuelle Übergriffe Minderjähriger spezialisierte. Doch Tui verschwindet. Vielleicht floh sie, vielleicht trug man sie hinfort. So steuert Robin die gnadenlose Stadt durch die Linse einer Tragödie. Der Schlüssel im Konzept kristalliert sich in der, im Gegensatz zu Laura Palmer, noch lebenden Tui. Laura Palmers Tod bildete das zentrale, unleugbare Übel, welches den FBI-Agenten Dale Cooper (Kyle MacLachlan) zu ihren Freunden, ihrer Familie und den dunklen Zwängen in „Twin Peaks“ leitete. Letztendlich führt die vermeintliche Faszination mit Laura lediglich zu Aussagen über sie aus erster und zweiter Hand – sie harren als Riff einer Gesprächsgrundlage im blutvollen Raum, nicht als eigenständiger Charakter.

Tui jedoch ist lebendig, frühreif, diffizil und borgt dem städtischen Schauspiel ein pochendes Herz. Als weitere Figuren des Domizils Robin verschlingen, erlaubt sich Jane Campions und Gerald Lees Drehbuch Robins Mitgefühl für Tui rasch und delikat von einer harmlosen Anteilnahme zu einer akuten persönlichen Beziehung auszudehnen, welche sodann gleichsam in expressiven Anteilen eskaliert und das Gefühl einer Erbsünde beisteuert. Tuis Wirrsal und ihr kompliziertes Los – eine Geburt, die sie umbringen könnte und ein Vergewaltiger, der sie möglicherweise zeugte – wandern zu einer Observierung über die menschliche Natur mittels formeller, ursprünglicher Urteile. Hinter der emotionalen Schmerzfassade Tuis schleicht kein gänzliches Opfer, keine gänzlich Unschuldige, sondern ein Kind des Vertrauens zu geladenen Waffen und gesattelten Pferden. In vielerlei Hinsicht demonstriert Tui die wohlgeformteste Person von „Top of the Lake“ innerhalb bemühter Längen, um die eigene Vergangenheit in einer Stadt der ausgebreiteten Dramen zu erlernen. Ihre Umsicht lässt sie die Ausbeutung Toplakes begreifen, aber niemals völlig verinnerlichen. Noch kennzeichnet sie die Angst, die mangelnde Lebenserfahrung, nicht das Verständnis all der tiefen Heimtücke.

Die spirituelle Führerin eines unstrukturierten Frauenunterschlupfes, GJ (Holly Hunter), predigt derweil über die Weisheit des Körpers und Relevanz seine Gedanken zu vergessen und „wer man denkt zu sein“, Bezug nehmend auf Robins Gedankenstrom als einen „Scheißestrom“. Da Robin in die unzähligen Geschichten der Stadt (inklusive ihrer eigenen) eintaucht, sehen wir den Schrecken aller Menschen vor ihren eigens praktizierten Taten, vor jenen ihrer Familien und vor ihren giftigen Gedanken, die sie hindern, endlich Frieden walten zu lassen. „Paradise“ nennt sich die Herberge; die Einwohner von Laketop allerdings genießen das Paradies nicht allzu lang. Der Vorhof zur Hölle naht.

Schon in „Das Piano“ strickte Jane Campion die Landschaft als sphärisches Hintergrundmelodram innerhalb von Hügeln und in den Streifzügen durch Anhöhen ein längst verlorenes Emblem außerzeitlicher Hingabe – eine Ära in der Moderne, doch gleichzeitig fern davon. Ein wohlwollender Schüttelfrost färbt auch unser Erlebnis, als ob Wind und Regen und Kälte die vierte Wand hinüber schreiten, die raue Anmut Neuseelands an unserer Wange reibt. Die Wildnis in „Das Piano“ offerierte eine üppige und sinnliche Kulisse für die beschädigte Sexualität der Protagonisten; in „Top of the Lake“ reflektiert der kalte, ruhige See und die entfernten Berge virtuos die unheilvollen Geheimnisse der Stadt und ebenso die undurchdringbare Wildheit des Opfers, Tui. Offenbarung folgt Offenbarung, jede einzelne davon eine Oper für sich und gleichsam eine Symphonie drückender Unglückseligkeit abseits der finster-komödiantischen Intermezzi von Lynchs erstaunlicher Fantasie. Ohne die dringenden Mittel eines Vorläufers oder einer Weiterführung benötigt „Top of the Lake“ keinen Fixpunkt in der Kontinuität oder explosive Vehikel, keine Charaktere, die innerhalb einer Episode eingeführt, vollendet und aus Mangel reanimiert werden müssen.

Wuchernde Pfade führen vorbei an Gabelungen: Jene, die wir einschlagen, jene, denen wir ein Stück folgen und dann umkehren, jene, die unser Interesse kaum stillen, jene, nach denen wir wirr blinzeln, doch das Bedeutsame versäumen. Alle Wege schließlich lotsen „Top of the Lake“ in eine komplexe Studie des Irrsinns. Der Schmerz des Überlebens: eine zarte Melodie. Denn Menschen ertrinken nicht einfach.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Top of the Lake“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.