Wer schweigt, hat nichts zu sagen. Wer stumm ist, kann nichts sagen. Die Kommunikation verläuft auf nonverbaler Ebene, und ist doch zur selben Ausdrucksstärke fähig wie das gesprochene, geschriene und geflüsterte Wort. Wir sehen es als stummes Bitten, etwas zu verstehen, das Schweigende nicht imstande sind zu sagen. Doch eigentlich übersehen wir darin nur die Unmöglichkeit, die Hintergründe des Stummseins nachzuvollziehen. Warum schreien, wenn wir es stumm zeigen können. Warum flüstern, wenn ein Blick genügt? Und manchmal braucht man nicht einmal die Augen oder ein wildes Handgemenge, um etwas auszudrücken. Manchmal genügen die Stille und die Musik. In der Stille aber atmet auch die Furcht. Jene Furcht vor der eigenen Leidenschaft, einer Leidenschaft, die auseinander bringt und zerstören kann.
Als Ada McGrath (Holly Hunter) gemeinsam mit ihrer Tochter Flora nach Neuseeland kommt, um den vermögenden Alisdair Stewart zu ehelichen, ist das Wichtigste und Einzige, an das sie sich klammern kann, ihr Piano. Jenes Piano, das Stewart nicht zu schätzen weiß und schließlich an den, mit den Ureinwohnern zusammenlebenden, George Baines verkauft. Die als Opfer positionierte Ada, aufgrund ihrer Stummheit nur über ihre Tochter und mit kleinen Zettelchen zur Kommunikation fähig, kann sich dem Willen der Männer nicht entgegenstellen und muss schweigend verharren, während Baines ihr ein unlauteres Angebot macht.
Adas Piano ist Ausgangspunkt jedes inhaltlichen Diskurses von „Das Piano“. Für Aida ist es Kommunikationsmittel, Zuflucht und größter Besitz. Neben dem materiellen Wert sieht sie vor allem die Flucht vor ihrer Stummheit in der von ihr gespielten Musik. Wenn ihre Finger in wunderschöner Präzision über die Tasten gleiten, verändert sich etwas in den Menschen, die den Tönen lauschen. Musik ist Hoffnung, es vertreibt die Leere im Inneren. Während Aida zumeist mit stoischem, abweisendem Gesichtsausdruck ihre Mitmenschen straft, wird sie zum Klang der Musik ein ausgetauschter, engelsgleicher Mensch, den ihre Umwelt nicht tangiert. Durch das Piano interagieren Baines und Aida das erste Mal richtig miteinander. Sie sind beide kommunikationsgestörte Menschen und können nicht auf herkömmlichem Wege miteinander kommunizieren. Während Aida nicht sprechen kann, ist Baines Analphabet. Er kann Aidas Geschriebenes nicht lesen. Das inhaltleere Nuscheln Baines macht ihn unseriös, lässt ihn dumm und fremdländisch wirken. Zu unzivilisiert für Aida. Es kristallisieren sich Unterschiede heraus, die sie voneinander abstoßen. Sie sind beide auf ihre Art und Weise stumm. Außenseiter, Ausgestoßene.
Doch ist Baines auch dieser leicht schüchterne, unscheinbare, beinahe existenziell-leise schauende Beobachter. Gefangen in seinem eigens gewählten Exil. Als wenig gebildeter und noch weniger intelligenter Landbesitzer, verkauft er seinen Besitz für ein Piano. Für eine Frau, die nicht die seine ist. Er begibt sich auf einen nicht ausgefochtenen Machtkampf mit Sam Neills Stewart, dessen vorgetäuschte, unscheinbare Sorge zum ausbrechenden Vulkan wird. Während Baines minutiös kalkulierter Akt der Zusammenführung mit Aida in seiner Leidenschaft endet, nimmt dies Aida Gliedmaßen und Heimat.
Jane Campion macht aus ihren konformen Figuren geächtete, filmisch sezierte Ausreißer. Sie sind keine Rebellen, sie werden von Suchenden zu Leidenschaftlichen zu Liebenden. Aida sucht ihr Piano, findet die Musik und verliebt sich in Baines. Und Baines sucht Zuneigung, findet körperliche Befriedigung und verliebt sich schließlich in Aida. Sie gehen leise, nur den Klängen des Pianos folgend, den Weg, der sie zusammenfinden lässt. Obwohl Baines ein Sympathieträger gegenüber Stewart ist, versteht es Campion, von einer Romantisierung des Mannes Abstand zu nehmen. Aida ist für ihn erst eine Hure, ein Objekt, wie es auch das Piano ist. Er nimmt den Profit, den er haben kann. Für ihn zählt Körperliches, Emotionalem ist er eher fern. Erst mit der Zeit wird aus dem Materiellen etwas Emotionales. „Das Piano“ würde auch als Stummfilm funktionieren, doch würde dies dem Film seine Dynamik und Gegensätze nehmen. Aida würde zum uneingeschränkten Mittelpunkt des Filmes. Baines und seine Hintergründe verkämen zur bildhaften Assistenz der Protagonistin. Nicht selten lebt der Film allein durch die Koexistenz der beiden Hauptcharaktere, ihren Gefühlen und ihren selten gezeigten, aber umso präsenter wirkenden Emotionen zueinander.
Holly Hunter gewinnt durch ihre Dominanz in Mimik und Gestik meist die Oberhand in schauspielerisch aufeinandertreffenden Szenen, nur selten lässt sie sich fallen und harmoniert mit Harvey Keitels Charakter. Dessen Baines ist ein ruhiger, zurückhaltender Exilant, der sich der rauen Umgebung angepasst hat und trotz seines brummigen, sensibel wirkenden Auftretens, eine bärige Präsenz einnimmt. Keitel gelingt es, die Akkuratesse aus Baines demütig wirkenden Auftritten nicht als Demut zu präsentieren, sondern sie als Sensibilität und Distanz zu offensichtlichen Gefühlen wirken zu lassen. So ist Baines vielmehr das leicht harmonisch klimpernde Piano und Aida mimt die aggressiven Streicher im Hintergrund. Campion lässt „Das Piano“ nicht im Morast von Weitläufigkeiten und Existenziellen verlaufen. Als Liebesfilm taugt die inhaltliche Ebene wenig, da Gefühle missbraucht werden und das Happy End, so melodramatisch es auch daherkommt, seine Signifikanz im Laufe des Geschehens verliert. Um der Liebe zu frönen, beruht der Zusammenhalt zu sehr darauf, dass man sich aus seiner Existenz befreien will, nicht aber um eine neue zu beginnen. Vielmehr kann „Das Piano“ als Zueinanderfinden verstanden werden, auch wenn gesellschaftliche Kontroversen dagegenhalten. Ein bisschen Coming of Age für Erwachsene, ein bisschen Selbstfindung im Sumpf, aber vor allem pure Schönheit vor einzigartiger Kulisse.
Es kratzen die Streicher, es klimpert das Klavier, die Bläser spielen – musikalisch spricht der Film mehr als in all seinen Dialogen. Michael Nyman und Kameramann Stuart Dryburgh kreieren ein Konzert aus Bildern und Tönen, die sich zu einer Romanze zusammenfügen – aber zu keiner wirklichen Liebe.
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