In einer Zeit, in dem der Männertypus seine Definition daraus nimmt, dass die Unterscheidung zwischen Maskulinität und Feminität ein gesellschaftliches und soziales Hindernis für besonders junge Menschen ist, brechen zwei Individuen aus diesem Käfig aus. Der Käfig ist in „Brokeback Mountain“ die Gesellschaft. Gefangen ist man, wenn man anders denkt, anders fühlt und anders sein will. Anders, im Sinne von anders wahrgenommen werden. Denn eigentlich ist jeder gleich. Der Grundbaustein der menschlichen Gesellschaft und alles Rechtlichen ist die Gleichheit. Doch wie soll man als Einzelner gleich sein, wenn alle anderen einen als anders ansehen? Als Ausgeburt etwas Bösen und Schlechten. Die Individualität auszuleben, ob in sexueller oder persönlicher Hinsicht, ist ein menschliches Grundbedürfnis und Recht. Das Spiel mit der Zeit, in welches sich die Protagonisten Ennis Del Mar (Heath Ledger) und Jack Twist (Jake Gyllenhaal) flüchten, führt sie für den Moment immer näher zusammen, doch distanziert sie von der Akzeptanz der Gesellschaft.

Um Geld zu verdienen, heuern der Rancharbeiter Ennis Del Mar und der Rodeoreiter Jack Twist auf dem Brokeback Mountain an, um eine Herde Schafe vor Wilderern zu schützen. In der Kälte, umgeben von nichts außer Schnee und Bäumen, kommen sich die beiden Individualisten näher. Geblockt durch Ennis, akzeptiert durch Jack, entwickelt sich eine Liebe. Die raue Einsamkeit gibt ihnen die Möglichkeit sich offen zu verhalten, doch die Zeit am Brokeback ist nur von kurzer Dauer und bald treten beide in das gesellschaftliche Leben ein und gehen getrennte Wege.

Man könnte annehmen, Ang Lee hätte mit „Brokeback Mountain“ die wohl geradlinigste und provokanteste Art der Dekonstruktion aller Cowboy-Mythen beabsichtigt. Die geballte Männlichkeit, die über Jahrzehnte in Film und Literatur ein Sinnbild für die Wildnis geworden ist, als leere und sinnlose Illusion zu demonstrieren, ist sicherlich keine Tat großer Sensibilität, sondern reine plakative Logik. Umso mehr erfreut es, wenn sich die scheinbar vorherrschende Intention des Filmes nach und nach auflöst und aus der Asexualität der illusorischen Cowboys die homosexuelle Komponente entstehen lässt, die nicht als Kritik, sondern als Weisheit dasteht. Ang Lee versteht seine Protagonisten nicht als Schwule, als ein kategorisches Prinzip, sondern als losgelöst, freie und gleiche Menschen. Menschen, die in ihren Gedanken genauso frei sind, wie jeder andere, aber diese Gedanken sie nur dann frei ausleben können, wenn sie alleine sind. „Du bist vielleicht ein Sündiger, aber ich hatte noch nie die Möglichkeit dazu.“, meint Del Mar, an dem Abend, bevor sie ihre erste gemeinsame Nacht haben. Zusammengetrieben durch die Kälte der Nacht, dem Rausch des Alkohols und dem Drang, nicht allein sein zu wollen. Irgendwie verlassen und nur die Zweisamkeit suchend, begegnen sich Del Mar und Twist nicht als Liebende in ihrer ersten gemeinsamen Nacht, sondern als gezwungene und teilweise auch gepeinigte Seelen. Sie beide finden in dieser Nacht die abstoßende Wahrheit über sich selbst heraus. Nicht die Wahrheit, dass sie schwul sind. Sondern die Wahrheit, dass sie sich lieben.

Die Liebe zweier Individuen ist der Mittelpunkt aller Konspiration. Ennis Del Mar begegnet der Liebe mit Abneigung. In ihrer ersten Nacht reagierte er aggressiv und später abweisend. Er ist sich der gesellschaftlichen Ausgrenzung Seinerselbst bewusst, während Jack Twist, der naive und lebenslustige Jüngling, in seinen Gefühlen lebt. Beide Gegenpole zementieren ihre Liebe ganz individuell, aber verlieren sie niemals. Während Ennis nach ihrer Trennung heiratet, ein geordnetes Leben zu führen versucht, gleitet Jack verloren durch die Welt. Der Versuch, ein Jahr später auf den Brokeback zurückzukehren, endet mit der Einsicht, dass ihr Geheimnis nicht so geheim war, wie erhofft. Dennoch bleibt die Liebe der beiden zueinander, trotz verschiedener Lebensstile, allgegenwärtig. Die Suche der Gefahr, das fehlende Gefühl des Zusammenseins, verstärkt sich im Laufe der Jahre, verliert sich in vorgeheucheltem Interesse an Frauen und dem Aufbau anderer Existenzen.  Dann der Versuch der Wiedervereinigung: Im Schatten der eigenen Ehen zelebrieren sie eine Affäre. Zurück auf dem Brokeback besprechen sie ihre Zukunft. Aussichtlos, verloren, unmöglich – da ist nichts, was sie zusammenhält. Ihre Liebe besteht nicht die Prüfung der Gesellschaft. „Wie lange denn?“, fragt Jack und Ennis resümiert nur vage: „So lange, wie wir können.“

Sinnlich und bewegend schreitet „Brokeback Mountain“ durch das Jahrzehnt der 60er und 70er. Die Verwandlung von verschreckten Cowboys zu Ehe- und Geschäftsmännern. Von unsicheren Jünglingen zu aggressiven Existenzialisten. Der sich aufbauende Verlust jeglicher Bodenhaftung. Ihre Sexualität zerstört nach und nach ihre Lebensgrundlage. Die Scheidung Ennis’  markiert einen Wendepunkt im Leben beider. Ennis ist ohne Standbein im Leben. Kein Anker, der ihn hält. Das Einzige, was ihn hält, sind die Besuche auf dem Brokeback. Doch die erfüllen Beide nicht. Diese „Bergficks“ sind zu wenig. Zu wenig, um sie zusammenzuhalten. Es ist so, als würde diese Liebe langsam zerbrechen. Dann zerbricht nicht die Liebe, sondern sie selbst.

Wenn Heath Ledger in die Knie geht und sein Gesicht schmerzverzerrt in die Kamera blickt, zeigt sich die Größe seines schauspielerischen Talents. Ein Talent, welches durchgehend auf das eines Psychos deklassiert wird. Doch der scheue Blick und die zaghaften Gesten machten Ledger letztendlich zu einem der bedeutendsten und wichtigsten Schauspieler seiner Generation. Ang Lee pulverisiert in „Brokeback Mountain“ nicht nur jede intolerante und klischeebehaftete Diffamierung und macht aus der Homosexualität kein politisches Thema, sondern ein individuelles. Es ist die Liebe, die wichtig ist. Die Liebe zwischen zwei Personen. Ein Liebesfilm durch und durch.

Meinungen

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Bisherige Meinungen

Prechtl
20. November 2014
21:05 Uhr

Ich sehe, ich stehe mit meiner Meinung alleine da. Ich finde, dass die oben besprochene Szene, in der Ledger in Tränen ausbricht, furchtbar schlecht gemacht. Er sieht so aus, als hätte man ihm Augentropfen eingeflößt. Ich fand immer, dass Gyllenhaal besser spielt, auch wenn das Hauptaugenmerk auf Ennis del Mar liegt. Trotzdem ein wunderschöner Film, den man nicht genug lieben kann.

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