Eine Frau kreischt. Aus ihr bricht ein Schwall an Emotionen: Wut, Angst, Hilflosigkeit. Ihr sechsjähriger Sohn Malony baut nur Mist und sie weiß nicht mehr, wie sie damit umgehen soll. Deshalb stürmt sie mit einem kleinen Baby, ihrem zweiten Sohn, auf dem Arm aus dem Raum, knallt die Holztür hinter sich zu – und lässt Malony einfach zurück. Da sitzt er nun ganz still und hilflos dieser kleine Junge, kann nicht einordnen, was hier gerade geschehen ist und was jetzt auf ihn zukommen wird. Seine Mutter ist weg und er bleibt mit zwei fremden Frauen im Büro der Richterin Florence Blaque zurück, einem Ort, der ihn noch viele Jahre begleiten wird … Langsam fließt eine Träne über sein zartes Bubengesicht: Er ist allein.

Auf diese Eröffnungssequenz in Emmanuelle Bercots „Standing Tall“ („La tête haute“) folgt ein radikaler Schnitt: Malony ist nun knapp sechzehn Jahre alt und düst mit einem geklauten Auto über die Wiese – aus dem Off schallt „Sound of da Police“ von KRS-One. Es dauert nicht lange, dann findet er sich im gleichen Raum wieder, der vor zehn Jahren sein Leben so sehr verändert hat: bei Richterin Blaque, elegisch-emotional gespielt von der wunderbaren Catherine Deneuve. Er ist nicht mehr das spielende Kind, das dem Nervenzusammenbruch seiner exzentrischen Drogenmutter nur sprachlos zusehen kann – er ist jetzt ein wütender Jugendlicher, der sich und seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hat.

Bercots Coming-of-Age-Sozialdrama, das die 68. Filmfestspiele von Cannes eröffnet hat, dokumentiert im Stil der Dardenne-Brüder nicht nur die Abgründe eines schwierigen Teenagers, sondern die Abgründe einer verkorksten Gesellschaft, in der ein Junge wie Malony ja gar keine andere Wahl hat, als Kinderheim, Knast und Gruppentherapie. Einen guten Job wird er sowieso nie finden, das hat ihm seine Mutter – grüner Lidschatten, braune Zähne – ja bereits vorgelebt, und für ein glückliches Familienleben ist es auch schon lange zu spät. Er steckt in der Schublade der Unterschicht fest und kommt einfach nicht raus: Deshalb ist er jetzt aggressiv, stinksauer und zutiefst traurig. Als er seine Mutter aus dem Heim anruft, brechen die Tränen aus ihm heraus, weil er sie so sehr vermisst. Als ihn die burschikose Tess ganz zärtlich auf den Mund küsst, weiß er überhaupt nicht, wie er reagieren soll. Zärtlichkeit? Ist ihm völlig fremd, hat er diese bisher doch nur von seiner psychisch labilen Mutter erfahren, die selbst beziehungsunfähig ist.

Ein Junge mit Mommy issues und eine Mutter mit Man issues führen eine passiv-aggressive ödipale Ersatzbeziehung – unter dem Deckmantel der sozialen Ungerechtigkeit. Und am Ende emanzipiert sich der Junge nicht nur von der eigenen Mutter, sondern auch von der asozialen Gesellschaft. Dann trägt er sein kleines Baby aus dem Justizpalast und läuft der Kamera entgegen. Eine neue Generation, vielleicht mit einer besseren Zukunft? Das könnte man ja fasst schon einen Beziehungssozialdramenklassiker nennen. Was inhaltlich etwas abgedroschen daherkommt, ist technisch gesehen interessant umgesetzt: Eine Handkamera verfolgt die Figuren, klebt ganz nah an ihnen, lässt sie nicht aus den Augen und spiegelt so die Unruhe wider, die Malony in sich trägt. Und genau deshalb funktioniert „Standing Tall“ halt doch: Weil der Kinoneuling Rod Paradot diesen Jungen so kraftvoll verzweifelt zwischen brutaler Hoffnungslosigkeit und feinfühliger Liebe verkörpert, dass man nach dem Film ganz bedröppelt aus dem Kino stolpert und über all diese Dinge nachdenkt, die da gerade auf der Leinwand passiert sind.

Meinungen

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