Dieser Text stellt keine analytische Kritik dar. Vielmehr handelt sich um einen Erfahrungsbericht, der Miguel Gomes’ „Arabian Nights“ emotional zu verstehen versucht.
Ob sich Miguel Gomes bewusst war, dass „The Desolate One“ keines Pro- oder Epilogs bedarf, um gleichsam früher und später zu beginnen? Früher, da seine Erzählungen ihrer filmischen Zeit vorausblicken; später, da sie eines konkreten Ausdrucks nachhinken. Der fraktionelle zweite Ausschlag seiner „Arabian Nights“ müht sich jedoch keines Zwangs ab, obwohl er leichter zu goutieren scheint als sein exaltierter Vorgänger „The Restless One“. Womöglich sitze ich aber auch einer Täuschung auf, kreiert aus einem niedrigen Blutzuckerspiegel und den Produkten unzähliger Filme, die als Phantome um Gomes’ drei Intermezzi mit „Tausendundeiner Nacht“ schwärmen. Denn wer in Referenzen denkt, sieht leichthin über diese zwei Stunden hinweg, knuspert Chips in Gedanken an Pier Paolo Pasolini, Béla Tarr, Robert Bresson, Wong Kar-wai, Guy Maddin und Luis Buñuel, und erfreut sich seiner Fähigkeit, das Neue als Zögling des Alten zu erkennen. Schön und scheußlich zugleich. Eine Unsitte, unter der ich dennoch meine Furcht begrabe, „Arabian Nights“ abermals nicht einordnen zu können. Und doch lässt sich heutzutage beinahe alles einordnen mithilfe des eigenen, obgleich unsicheren Gedächtnisses – und des Internets. Wenn „The Desolate One“ allerdings wahrhaft über eine Marginalität erzählt, dann über die Marginalität der unbedingten Negation. Nur weil etwas nicht ist, muss es nicht nichts sein.
So sagt Gomes über „Arabian Nights“, es handele sich um einen Film, und zugleich um drei Filme, wie Gott in der christlichen Theologie gleichzeitig der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sei. Falls Gott sich aber in jedem Part des Triptychons versteckt, welche Figur nimmt die Rolle des Vaters, welche des Sohnes, welche des Heiligen Geistes ein? Oder findet sich die Trinität gar in jeder Figur und nochmals in jeder Geste und in jedem Wort; empfängt mich möglicherweise unentwegt keine Einheit, sondern ein Tripel aus zerstreuten Faktoren? Am ehesten schließt „The Desolate One“ eine Lücke im Firmament, die nur entsteht, wenn kein Stein auf dem anderen sitzt und am Ende trotzdem alle Steine eine Mauer formen. Zu Beginn wandert daher ein knorriger Gesetzloser über Stock und Stein, entlang unzähliger Mauern, die sich natürlich, darüber zeigt sich Gomes fortwährend konsterniert, in einer Krise auflösen. Der Schäferroman entblößt sich zusehends als Road Movie, während der Vagabund drei vollbusige Prostituierte für sich, Sex, Speis und Trank gewinnt und im Kerzenschein ein feudales Rebhuhnmahl abhält. Zweifel breiten sich aus – das Fest ist nur Schein, die Obszönität nur Maskerade. Dabei befähigt sich Gomes einer Zauberformel: „The Desolate One“ wälzt sich als Tagtraum durch die Nacht. Stiere ich für einen Moment über die Leinwand ins Nichts, breitet Scheherazade wieder ihre langfingerigen Geschichten aus. Die Urmutter des Cliffhangers bezirzt auch mich, ich solle mit dem Film, den ich sehe, spielen.
Ein groteskes, multilineares Spiel treibt auch eine Richterin um, die „Arabian Nights“ erst sein Capriccio schenkt. Und was für ein exzentrischer, resoluter, surrender Regelverstoß sich in der Mitte eines Amphitheaters die Blöße gibt, abseits plumper Konventionen, die ich zu sehen bereit bin, aber nur als Schlägerei in Monologen zu mir nehme. Meine Angst entpuppt sich als hierarchisch. Je mehr Gomes mir weismachen möchte, seine Episoden steuerten auf ein Ziel zu, desto weiter treibe ich fort in den Schweiß, der sich durch das Gebläse der Klimaanlage kalt auf meiner Haut manifestiert. Irgendwann, es ist noch früh, doch gleichsam spät, tollt schließlich ein weißer Pudel über die Flure eines Lissabonner Arbeiterhausblocks und sieht sich selbst als milchigen Geist um Pflanzenkübel tanzen. Jenen Pudel, seine wechselhaften Herrchen nennen ihn Dixie, beschreibt Gomes als Maschine der Liebe und des Vergessens. Ich beginne, zu verstehen: „Arabian Nights“ treibt in seinen humanistischen Tragödien eine Schneise ins Kino, doch prallt am Medium ab. Das Kino ist kein Ort für diesen Film. Aber welchen besseren Ort würde es geben? „Und als der Morgen graute, verstummte Scheherazade.“ Und eine Variation des Lieds „Perfidia“ säuselt in meinem Kopf.
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