Es ist gerade sehr stürmisch an der grünblauen Côte d’Azur. Der Wind wirbelt die flatternden Ballkleider hoch in die Luft, verstrubbelt die schön frisierten Haartürme, lässt die Kinobesucher im Salle du Soixantième ein wenig gruseln, als sich die schweren Planen knirschend hin und her bewegen und sich auf der Leinwand gerade die schräge Welt von Matteo Garrones „Tale of Tales“ ausbreitet. Es ist bereits Tag drei der 68. Filmfestspiele von Cannes und das Wetter – viel Sonne, ein wenig Regen, viel Wind – ist genauso wechselhaft wie das Programm, das an diesen Tagen bisher zu sehen war.

Ein sehr untypischer Film – gehen wir einmal davon aus, das Festival de Cannes sei das glamouröseste Filmfestival von allen – eröffnete am Mittwochabend zwölf Tage Filmwahnsinn: Emmanuelle Bercots wütendes Coming-of-Age-Sozialdrama Standing Tall („La tête haute“). Der Film dokumentiert im Stil der Dardenne-Brüder nicht nur die Abgründe eines schwierigen Teenagers, sondern die Abgründe einer verkorksten Gesellschaft, in der ein Junge wie der sechzehnjährige Malony gar keine andere Wahl hat, als Kinderheim, Knast und Gruppentherapie. Auch der gefühlvoll-mystischen Film „An“ von Naomi Kawase, der in der Un certain regard vertreten ist, handelt von Außenseitern: Tokues Hände sind verkrüppelt, da sie als kleines Mädchen Lepra hatte und ihr ganzes Leben in einem abgeschotteten Sanatorium verbrachte – isoliert von ihrer Familie, ihren Freunden, der Gesellschaft. Dafür findet sie in der Natur ihre Verbündete, einen Ausweg aus der Einsamkeit. Ein melancholisch-ruhiges Drama über die Symbiose von Mensch und Natur in einer Welt, in der sich Menschen voneinander abwenden, die Natur aber bleibt und Hoffnung gibt.

Auch im Eröffnungsfilm der Directors’ Fortnight, „In the Shadow of Women“ („L’ombre des femmes“) von Philippe Garrel, geht es um Hoffnung: Der verkopfte Filmemacher und Macho Pierre und die fürsorgliche Manon sind seit Jahren glücklich verheiratet, bis sich beide in eine leidenschaftliche Affäre stürzen, die ihnen die Körperlichkeit gibt, die ihnen in ihrer Beziehung fehlt. In Schwarz-Weiß und auf 35mm gedreht, folgt die Kamera unaufgeregt – bisweilen vielleicht ein wenig zu unaufgeregt und romantisierend – den beiden Protagonisten auf ihrer schmerzhaften Reise zurück zueinander: im Bett mit ihren Liebhabern, zu Hause diskutierend am Küchentisch, auf der Trauerfeier eines gemeinsamen Bekannten. Im Zentrum immer wieder Pierres Männlichkeit: Er denkt wie ein Mann, weil er ein Mann ist und daran auch nichts falsch ist. Ja Ironie, natürlich.

Die spielt natürlich auch in Woody Allens neuer Tragikomödie „Irrational Man“ eine enorme Rolle, der am dritten Festivaltag Premiere feierte. Da verkörpert der wampige Joaquin Phoenix diesen irrationalen Mann, einen abgefuckten Philosophieprofessor auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Er ist frustriert, kriegt keinen mehr hoch und möchte einfach nur den ganzen Tag beschwipst über Kant, Heidegger und Hegel quatschen, um im gleichen Atemzug seinen Studenten zu vertickern, dass dieses ganze Philosophiegedöns doch überhaupt keinen Sinn macht im echten Leben. Erst ein skrupelloses Mordkomplott weckt in ihm wieder Interesse an seinem Leben – und an anderen Menschen; vor allem der schnuckelig-kessen Studentin Jull (Emma Stone). Endlich bringt Allen mal wieder eine subtilkomische Gesellschaftssatire auf die Leinwand, mit einem gewohnt dahinplätschernden Jazzsoundtrack und großartigen Schauspielern. Diesem Phoenix ist doch wirklich nichts zu blöd, zum Glück! Denn Wampe und unnützes Weltwissen stehen ihm extrem gut.

In Matteo Garrones Märchengroteske Tale of Tales („Il racconto dei racconti“), die im Wettbewerb um die Goldene Palme kämpft, geht es weniger um Realsatire. Der Italiener Matteo Garrone („Gomorrha“) lässt internationale Filmstars (Selma Hayek, Vincent Cassel, Toby Jones, John C. Reilly) in kunterbunten Kostümen durch fantastische Naturlandschaft streifen und verstrickt die einzelnen Geschichtchen zu einem skurrilen Geflecht aus Sex, Intrigen und Gruselwesen: vielleicht ein passender Stoff für einen Netflix-Konkurrenten zu „Game of Thrones“? Mal sehen, was Netflix-Chef Ted Sarandos auf einer Talkrunde in Cannes so zu sagen hatte – zur Zukunft des Films.

Besprechungen im Überblick

„Tale of Tales“ (Ausführliche Kritik)

Es war einmal vor langer Zeit, da gab es drei Könige und eine Königin … so hätte Matteo Garrones Märchengroteske „Tale of Tales“ eigentlich ganz klassisch beginnen können. Dann muss der König aber für seine Königin einen Unterwasserdrachen erlegen und stirbt dabei selbst, dann wird die Tochter eines anderen Königs durch ein Ratespiel an einen ekligen Oger-Riesen verschachert, dann verwandelt sich ein hässliches Waschweib in eine rothaarige Schönheit und heiratet den dritten König. Es entsteht ein Film, der gleich mehrere Filme in sich vereint und zwischen den einzelnen Erzählsträngen hin und her springt, bis sich diese Episoden am Ende zu einem großen Ganzen vermengen – zumindest für kurze Zeit, wenn sich alle Majestäten am Ende auf einem Schloss versammeln.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Cannes 2015 – Tag 2 und 3“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.