Der Spaß – oder besser die Schlange – beginnt bereits am Flughafen in Nizza: Jede halbe Stunde karrt der Express-Bus 210 Filmbegeisterte und andere Touristen nach Cannes. Eilig haben sie es nicht, der Busfahrer und der Koffereinräumer. Sie lassen ganz gemütlich ein junges Paar mit Baby aussteigen, den Kinderwagen herausholen und diesen umzingelt von rund hundert wütenden Wartenden aufbauen. Denn mittlerweile hat sich dort vor dem Bus 210 ein Pulk an nervös zuckenden Menschen mit Riesenkoffern gebildet. Die Menge schleift sich von der geschlossenen Bustür zur Ladefläche und wieder zurück zur Bustür – bis diese sich endlich (!) öffnet. Es kann losgehen! Auf zum 68. Festival de Cannes! Und wir sind dabei und berichten vor Ort über Filme, Menschen, Strandkuriositäten.
Dienstagabend, der Tag davor: Der rote Teppich vor dem fulminanten Grand Théâtre Lumière ist noch nicht ausgerollt; die Festivalangestellten in adretten beigefarbenen Anzügen kontrollieren ein allerletztes Mal die Positionen, damit am darauf folgenden Eröffnungstag auch alles ohne Komplikationen vonstattengehen kann; die ersten Besucher holen sich ihre Ausweise und blauen Lederschulranzen – die diesjährigen Festivaltaschen – im Akkreditierungsbüro ab, schlürfen einen schnellen Nespresso an der Bar im Palais de Festival, um sich einen ersten Eindruck zu machen und wandern dann zurück ins Hotel. Der erste Tag muss ja schließlich noch geplant werden – und der ist in diesem Jahr besonders: Es läuft nicht nur der Eröffnungsfilm, Emmanuelle Bercots „Standing Tall“ („La tête haute“), sondern gleich zwei weitere Wettbewerbsfilme: „Umimachi Diary“ von Kore-eda Hirokazu und „Tale of Tales“ von Matteo Garrone. Es kann losgehen!
Mittwochmorgen, der erste Tag: Jetzt wartet man nicht mehr in der Schlange für den Bus, sondern für den Eröffnungsfilm „Standing Tall“ – leider der einzige Film, der für Inhaber des gelben Badge an diesem ersten Tag zu erobern ist. Denn der Andrang auf die beiden Wettbewerbsfilme ist so groß, dass es nur die wichtigsten der wichtigsten Menschen in die Kinosäle schaffen. Aber keine Angst, wir bleiben dran – und werden in den folgenden Tagen noch von einigen Überraschungen wie auch Enttäuschungen berichten. Ab Donnerstag startet das gesamte Festivalrepertoire, das mit vielen spannenden Extras wartet – wie der Critics Week, der Directors’ Fortnight und dem Programm der Nebensektion Un certain regard. Es geht los!
Besprechungen im Überblick
„Standing Tall“ (Ausführliche Kritik)
Ein Junge mit Mommy issues und eine Mutter mit Man issues führen in Emmanuelle Bercots „Standing Tall“ eine passiv-aggressive ödipale Ersatzbeziehung – unter dem Deckmantel der sozialen Ungerechtigkeit. Und am Ende emanzipiert sich der Junge nicht nur von der eigenen Mutter, sondern auch von der asozialen Gesellschaft. Dann trägt er sein kleines Baby aus dem Justizpalast und läuft der Kamera entgegen. Eine neue Generation, vielleicht mit einer besseren Zukunft? Das könnte man ja fasst schon einen Beziehungssozialdramenklassiker nennen. Was inhaltlich etwas abgedroschen daherkommt, ist technisch gesehen interessant umgesetzt. Und genau deshalb funktioniert der Film halt doch: Weil der Kinoneuling Rod Paradot diesen Jungen so kraftvoll verzweifelt zwischen brutaler Hoffnungslosigkeit und feinfühliger Liebe verkörpert.
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