Da über den Handlungsverlauf des Films wenig gewusst werden sollte, verzichten wir – entgegen anderer Medien – auf die Ausführung einer frühen Wendung und wenden uns nur grob dem Inhalt zu.
Es gibt Filme, die sind im positiven Sinne eine Zumutung: Weil es sich lohnt, die Qual ihrer Zumutung zu dulden. Und es gibt Filme, die sind selbst im negativen Sinne keine Zumutung mehr – sondern ein Krebsgeschwür, an dem es schön wäre, möglichst schnell zu krepieren. Nun taugt die dänische Regisseurin Susanne Bier spätestens seit ihrem letztjährigen routinierten Schlamassel „Serena“ für beide Formen der Zumutung, der positiven und der negativen. Aber welche humanistischen Grenzgängerqualitäten ihr bis dato auch unterstellt wurden: Ihr aktuelles Werk „Zweite Chance“ lässt ernsthaft daran zweifeln, dass sie jemals eine Ahnung von der Kraft ihrer moralischen Dilemmata hatte. Es geht sogar so weit, ihr jegliches filmisches Gespür aberkennen zu müssen, weil sie ihre Figuren nur in Konflikte wirft, um sie später in ihnen zu ertränken. Mit Ambivalenz hat dies nichts gemein – wohl aber mit einer fahrlässigen Melodramatik, die sich als Diskussionsgrundlage missversteht.
Laut Regisseurin solle „Zweite Chance“ nämlich „den Zuschauer dazu bringen, sich mit seinen Moralvorstellungen einerseits und seinem Drang nach pragmatischen Lösungen andererseits auseinanderzusetzen“. Wenn es tatsächlich um pragmatische Lösungen ginge, wäre es jedoch ratsam, Biers reaktionären Versuch mit dem Vorschlaghammer zu meiden und eines ihrer früheren idealistischen Stücke aufzusuchen – wahlweise „Nach der Hochzeit“ (Oscar-nominiert) oder „In einer besseren Welt“ (Oscar-prämiert). Um Ethik ging es ihr dabei schon immer. Aber Ethik bedeutet zweierlei; abhängig davon, ob die Theorie vom Handeln deskriptiv oder normativ umgesetzt wird. Bei „Zweite Chance“ lässt sich jedoch früh erkennen, dass es Biers maschineller Anordnung am Verständnis für den Menschen und seinem Ausnahmezustand mangelt. Es beginnt bereits mit Polizist Andreas, der plus Partner die Wohnung des kürzlich aus der Haft entlassenen Tristan aufsucht. Schnitt zu Siff, Drogenbesteck und Tristans Sohn, der im Schrank in seinen eigenen Exkrementen liegt, friert und schreit. Auch ansonsten erfüllt Tristan mühelos die psychologische Grobradierung eines erregten, schlagenden Ex-Knackis im Problemviertel, der den Eckpfeiler des stereotypen Figurenkabinetts bildet.
Konträr dazu zeichnet Drehbuchautor Anders Thomas Jensen das plakative Leben Andreas’, der mit Frau, Kind und Auto abseits sozialer Brennpunkte im provinziellen dänischen Hinterland an einem See lebt; Papiersterne, Laternen, Idylle – alles inklusive. Zum einen also Armut und Gewalt, zum anderen Wohlstand und Liebe. Daraus könnte ein durchaus passabler Film entstehen, den Susanne Bier vermutlich irgendwann schon einmal besser gedreht hat. Umso inakzeptabler indes, wie eine Regisseurin ihre weiblichen Schachfiguren derart substanziell bis zur Misogynie degradiert, dass sie allesamt den Eindruck erwecken – die Formulierung sei entschuldigt –, mit einer Therapie wäre ihnen nicht mehr geholfen. Wenn ein Pferd in vorherigen Jahrzehnten lahmte, wurde es erschossen. Heutzutage hieße das nach Meinung des Films: Es muss ein cholerisches Tohuwabohu um eine Frau mit Depressionen inszeniert, ihre Krankheit grundlos als Hysterie sabotiert werden. Den anderen Damen ergeht es kaum besser – von der drogensüchtigen ehemaligen Prostituierten (gespielt von einem Model) bis zur egoistischen Mutter, die ihren Enkelsohn kaum (er)kennt. Selbst wenn das radikale, konstruierte Experiment funktionieren würde, welches die Geschichte mit einigen Twists auszuführen versucht, bliebe noch immer eine geradezu groteske Widerlichkeit, in der Frauen vorsätzlich von einer Frau an den Pranger gestellt werden.
Am Ende tropft in die Zisterne mehr Regen, als sie fassen kann, während Susanne Biers impotente Unangemessenheit ausreichend Not, Pathos und Exzess füllt, dass es für ein gesamtes Jahr reichen dürfte. Die erhoffte „Zweite Chance“, Frau Bier, das war sie. Oder wie heißt es doch so schön? Nicht gewollt und nicht gekonnt.
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