Unendliche Worte schlagen in Stein. Währenddessen ächzt Kappadokien im tiefsten, unbequemen Winter: Die Feenkamine schlummern als weiße Hügelrücken inmitten sich trotzig erhebender Burgfelsen. Es ist nur Kulisse. In Nuri Bilge Ceylans „Winter Sleep“ brennt im Frost jedoch auch eine Odyssee des Kampfes. Aber diese meint nicht das augenscheinlich äußere Märchen um seine Protagonisten, sondern das Ringen um und mit der Worte, die hier nicht nur Kommunikation sind – sie sind ebenso Mahnmal und wütende Eruption. So sehr sich der Gewinner der Goldenen Palme des diesjährigen Festival de Cannes in endlosen Worten erschöpft, so sehr arbeitet er sich in der träumerischen Elegie seiner Umwelt ab. Dieser Film ist vordergründig Wort, aber durch den Kontrast wärmender Kaminfeuer und beißender Gesprächsduelle trotzdem ein kinematografisch entrücktes Essay über die Wunden der Zeit. Vielleicht sogar ist „Winter Sleep“ die schönste Ode an ein konträr zu den Sehgewohnheiten geführtes Kino, welches sich über beinahe dreieinhalb Stunden erst zu bändigen, dann zu befreien weiß. Wie das wilde Pferd, das Aydin (Haluk Bilginer) meint, besitzen zu müssen. Und es später wieder freilässt.

Über Ceylans Film zu schreiben, bedeutet aber auch an den Grenzen seiner Erzählung scheitern zu müssen. Da mag es zwar Aydin geben, der im Bergmassiv Zentralanatoliens einen Hotelkomplex führt, da mag sich seine wesentlich jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) währenddessen in Wohltätigkeitsarbeit erwärmen, da mag sogar Aydins frisch geschiedene Schwester Necla (Demet Akbag) für streitbare Intellektualität sorgen und Hidayet (Ayberk Pekcan) den Pflichten seines Herrschers erliegen. Allein die Laufzeit als Mittel der Epik sagt irgendwann nichts weiter, als dass „Winter Sleep“ in Länge berauscht, nicht aber, welche Mittel er dazu in seinen Kern nimmt, um sie später folgerichtig zu zertrümmern. Nuri Bilge Ceylan nimmt den Winterschlaf jenes kappadokischen Dorfes zum Anlass für ein darin entspinnendes Uhrwerk menschlicher Diskurse. Seine Kraft aber schlummert vielmehr in seinem Protagonisten Aydin, dem Mann mit den silbergrau nach hinten gestrichenen Haaren und dichtem Vollbart, welcher eigentlich ein Barbar aus Tausendundeiner Nacht ist. Für diese Erkenntnis lässt Ceylan dem Publikum unendlich Zeit – und es bleibt Zeit, die seinem Film endlose Tragweite hinzufügt. Weil Aydin Sympathien auf sich zieht, selbst, da er nur noch als einsamer Zyniker in wertlosen Worten schwimmt.

Das Leben stimmt nicht mit der Philosophie überein: Es gibt kein Glück ohne Müßiggang, und nur das Nutzlose bereitet Vergnügen.

Anton Tschechow

Gleichsam ist Aydin aber auch Objekt des russischen Dramatikers Anton Tschechow, der – und das eint Ceylan schließlich unumstößlich mit ihm – in seinen letzten Worten noch bemerkte, er habe so lange keinen Champagner mehr getrunken. Als Aydin gen Ende den Alkohol sein Blut überschwemmen lässt, tritt die Tragödie dieses Intellektuellen zutage, welcher seinen Stolz lediglich als Attrappe der Ignoranz all jener unter ihm versteht, denen die Sprache noch Werkzeug ist, aber die noch nicht in nutzlosen Hülsen hantieren, allein, weil sie es nicht können. Da erbricht sich der ach so gewichtige Auteur plötzlich, der nichts weiter als ein minderer Patriarch über die Armen ist. Er schweigt zum vermutlich ersten Mal, scheint starr, gebrechlich, alt, einsam. Haluk Bilginer lässt ihn aus den Trümmern seiner Schale langsam ins Licht treten. Wobei sein Spiel ebenso intim und fordernd wie der Film selbst ist. Aber auch ebenso desillusioniert von der Sprache. Als Aydin zusammensinkt, bleibt nur Trauer über eine Existenz, die sich zuvor mächtig gab, aber schon zuvor viel von ihrer Macht im Duell verlor – ob nun mit seiner Schwester, mit seiner Ehefrau, mit dem ehemaligen Häftling, dessen Sohn einen Stein nach ihm warf. Eigentlich ist Aydin Kolumnist für ein lokales Käseblatt und schreibt über die gesellschaftlichen Missstände, obwohl er der einzige in diesem kammerspielartigen Konstrukt bleibt, der von einer Welt berichtet, die er gar nicht kennen kann.

Im zeitgenössischen Film bedeutet das Wort dafür noch immer alles oder häufiger nichts. In „Winter Sleep“ meint es die kleine Welt einiger Menschen sanft und unmerklich aus den Angeln zu heben. Es spitzen sich Monologe und Dialoge zu Dolchen, die beißend ins Fleisch schneiden. Hört man hier genau hin, dann wird man für sehr lange Zeit den Nachwehen dieses Films verfallen, der sich an der Kommunikation zwischen den Menschen wetzt, reibt und immer und immer wieder mitten ins Herz sticht. Diese kleine Welt weckt in ihrem Labyrinth an Widersprüchen erst Vertrauen und später Erinnerung, bis sie in ihrem Handeln entlang unscheinbarer Grenzen Wege aufstößt, die sich erst Zug um Zug nochmals gabeln. Das Kino Nuri Bilge Ceylans war einst Bild, nun ist es Wort. Aber es ist immer stilles Gefecht. Und „Winter Sleep“ die großartige Symbiose neuer und ursprünglicher Motive eines türkischen Regisseurs, der den Wandel im kleinen fordert. Da widmete er die Goldene Palme auch folgerichtig der türkischen Jugend, besonders jenen, die im vergangenen Jahr ihr Leben verloren haben. Universelle Politik, wenn man so will. Oder auch: wahre, mutige Poesie, die den Traum scheut und die Wahrheit wagt. Es war einmal in Anatolien.

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