Hamburg – Stadtstaat, Hansestadt, Hafenstadt und vor allem: das Tor zur Welt. Wie nirgendwo sonst in Deutschland trifft hier das Internationale auf reichlich Gegenliebe, nicht nur, was den Zugang zum Handel, zur Industrie und Wirtschaft betrifft. Sondern auch in Sachen Kultur ist die einheimische Bevölkerung begierig darauf, alle Arten und Menschen der Kunst hier versammelt kennenzulernen. Seit 22 Jahren bietet das Filmfest Hamburg dafür eine grandiose Plattform – doch schon Jahrzehnte zuvor zierten zahlreiche Veranstaltungen die cineastische Skyline der Stadt: In den fünfziger Jahren nannte man es abwechselnd Hamburger Filmtage, -Filmwochen oder -Kinotage, in den späten Sechzigern und Siebzigern machten sich dann einige junge Pioniere wie Werner Herzog, Hark Bohm, Volker Schlöndorff und Wim Wenders dazu auf, die Unabhängigkeit der deutschen Filmlandschaft mit Einzel-Happenings wie der Hamburger Filmschau und dem Filmfest der Filmemacher zu lancieren, bevor sich am Horizont der achtziger Jahre ein Bund an regionalen Filmschaffenden zusammenschloss, um das inzwischen mit europaweiten Beiträgen gepfefferte Low Budget Film Forum zu organisieren. Aus diesen enthusiastischen Kräften heraus formte sich schließlich 1991 der Anstoß zum Konzept des Filmfest Hamburg zusammen und bereits ein Jahr später gelang unter der Leitung von Rosemarie Schatter die erfolgreiche Premiere.
Nun, im Jahre 2014, wird die Tradition wie gehabt weitergeführt und beherbergt dabei erneut ein kunterbuntes Potpourri des globalen Kinos, das sich gewaschen hat und aufgrund seines massiven Umfangs die Zeitplanung für jeden einzelnen interessierten Besucher in intensive Entscheidungs-Dilemmata verwandelt. Unter dem diesjährigen Ultramotto, Film does matter, werden nicht nur aufregende Cannes-Favoriten wie Xavier Dolans „Mommy“, Nuri Bilge Ceylans „Winterschlaf“, Damien Chazelles „Whiplash“, Ruben Östlunds „Höhere Gewalt“ und Fabrice Du Welz’ „Alleluia“ endlich auf die süchtige deutsche Zuschauerschaft losgelassen – um dem allgemeinen Kanon der Euphorie sicherlich noch mal einige teutonische Jodel-Noten unterzujubeln –, sondern auch einige obskure Besucher aus der Ferne, die bisher noch den Radar der Meinungsmacher unterwandern konnten, aber nicht minder begeistern dürften: Südamerika schlägt mit urigen Sonderlingen wie „Beaverland“, „The Gold Bug“, „Jauja“ und „Stille im Traumland“ zu und Osteuropa dringt mit „The Tribe“ und „White God“ in frisch verzeichnete Formen der Menschlichkeit ein, während die Dokumentation „Children 404“ gegen die neue Homophobie Russlands angeht (wobei auch schon der Eröffnungsfilm „Pride“ die Ehre der Gay Community zu verteidigen gedenkt). Asien lässt sich wie letztes Jahr von Kim Ki-duk mit seinem neuen Streich „One on One“ vertreten, doch auch Dramatisches, Hartes und sicherlich Außergewöhnliches wie „The Avian Kind“, „Mary is Happy, Mary is Happy“ und „Uncle Victory“ will sich in der Hinsicht die Bühne teilen – obwohl sich sowieso schon alle in Acht nehmen müssen vor dem 338-Minuten-Monolithen „From What Is Before“, der die letztjährige Geduldsprobe von Tsai Ming-Liangs Misery Porn „Stray Dogs“ wie einen „Looney Tunes“-Vorfilm erscheinen lässt.
Wer danach mal eine Verschnaufpause vom östlichen Kino braucht, kann sich an einem reichhaltigen Angebot unzähliger Problemfilme aus dem Nahen Osten bedienen, in eine Retrospektive zum Kino des ehemaligen Ostens, der DDR (als Gast anwesend: Gojko Mitic), retten sowie mit zwei neuen Folgen der Ostküsten-Crime-Saga „Boardwalk Empire“ und sogar einigen frischen „Tatorten“ den Serienhunger auf der großen Leinwand stillen. Aber richtig würzige Erfahrungen findet man daneben bestimmt noch auf der griechischen Speisekarte mit scheinbar deftigen Seelenabgründen der Marke „Miss Violence“, „The Enemy Within“ und „Xenia“. Ohnehin kann man zudem noch den Glanz & Glamour von anspruchsvollen Star-Vehikeln à la Liv Ulmanns „Miss Julie“ (mit Jessica „Interstellar“ Chastain), Richard Ayoades „The Double“ (mit dem neuen Lex Luthor Jesse Eisenberg), Asia Argentos „Misunderstood“ (mit „Nymphomaniac“ Charlotte Gainsbourg) und Abel Ferraras „Welcome to New York“ (mit dem in Flugzeuge pinkelnden Obelix) genießen – ganz zu schweigen von der Deutschlandpremiere von „The Cut“, dem neuen Film vom Hamburger Jung’ und diesjährigen Preisträger des Douglas-Sirk-Preises Fatih Akin!
Für was auch immer man sich entscheidet: Alles wird man nicht sehen können und über alles werden wir auch nicht schreiben können. Dafür ist das Programm schier bis zum Bersten vollgepackt und zur großen Freude der Veranstalter auch überaus begehrt. Doch selbst ein kleiner Einblick in die große Welt des Kinos ist so oder so der Himmel auf Erden für den normalsterblichen Kinofreund. Da kann man auch mal damit angeben, direkt oben an der Spitze Deutschlands, vor allen anderen ganz nah an der Pforte zum Paradies stehen zu dürfen. Aber wir wollen mal nicht so sein und geben rechtzeitig Bescheid, wenn etwas Besonderes auf die Erde einzukrachen gedenkt. Wir sind sogar so krass drauf, dass einige ausgewählte Kinos in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern erstmalig Besuch vom externen Filmfest bekommen! Aber am besten wäre, ihr kommt einfach alle mit zu uns nach oben und Hamburg lädt euch ein, so wie es schon immer war und hoffentlich auch immer bleiben wird – so sind wir nun mal, Kinners!
Das 22. Filmfest Hamburg findet vom 25. September bis 4. Oktober 2014 statt. Es nehmen folgende Kinos daran teil: Abaton, Cinemaxx Dammtor, Passage, 3001, Metropolis, Studio-Kino.
Überblick
A Blast – Ausbruch
Syllas Tzoumerkas, Griechenland (2014)
Tragische Anarchie: Syllas Tzoumerkas zerschlägt das moderne Griechenland und wichst sich ein Mosaik daraus zusammen.
Alleluia
Fabrice Du Welz, Belgien (2014)
Sucht nach Liebe: Fabrice Du Welz kreiert die Erweckung des Wahnsinns als Mittel zur Abkehr der Finsternis.
An Eye for Beauty
Denys Arcand, Kanada (2014)
Die vermeintliche Kraft der Perfektion: Die Probleme reicher Leute – eine kanadische Trauerphase in schönster Architektur.
Bande de filles
Céline Sciamma, Frankreich (2014)
Nieder mit den Mätzchen! Wen interessieren die Konventionen? Céline Sciamma beendet eine Trilogie, die nur Sieger kennt.
Beaverland
Antonio Luco, Chile (2014)
Der Humor natürlicher Balance: Antonio Luco und Nicolás Molina zeigen ulkige Bilderwelten von der Biber-Plage in Chile.
Fräulein Julie
Liv Ullmann, Norwegen (2014)
Die Furchtbarkeit des Furchtbaren: Liv Ullmann adaptiert August Strindberg als horrende Qual in Filmform.
From What Is Before
Lav Diaz, Philippinen (2014)
Ein Erfahrungsbericht: Das Kino Lav Diaz’ ist 338 Minuten lang – und so anstrengend wie interessant.
Höhere Gewalt
Ruben Östlund, Schweden (2014)
Eine satirische Lawine an Subtilität: Ruben Östlunds Satire über den Zusammenhalt einer Familie nach einer Paniksituation.
Jauja
Lisandro Alonso, Argentinien (2014)
Wirr ins Schlaraffenland: Lisandro Alonso erzählt über einen Eroberer, der sich nicht erobern lässt. Und nichts erobert.
Missverstanden
Asia Argento, Italien (2014)
Bestrafung der Unschuld: Bei Asia Argento wird die Liebe wie eine schwarze Katze im Käfig herumgetragen.
Mommy
Xavier Dolan, Kanada (2014)
Bleibt alles anders: Aus dem Leben zweier Jungen. Xavier Dolan nochmals über Liebe und Hass zu seiner Mutter.
One on One
Kim Ki-duk, Südkorea (2014)
Kontrovers in die Belanglosigkeit: Der neue Film des südkoreanischen Provokateurs Kim Ki-duk versagt auf ganzer Linie.
Stille im Traumland
Tito Molina, Ecuador (2013)
Am Ende bleibt nur die Gnade: Tito Molinas sanfter, doch ermattender Blick in die letzte Lebensstation.
The Cut
Fatih Akin, Deutschland (2014)
Sprachlos durch die Welt: Ein Kriegsopfer sucht seine verlorenen Töchter in Fatih Akins gewaltiger Rundreise. Ohne Stimme.
The Double
Richard Ayoade, Großbritannien (2013)
Das doppelte Lottchen der Paranoia: Aus dem Umstand der Schüchternheit erschafft Richard Ayoade ein zynisches Spiegelbild.
The Riot Club
Lone Scherfig, Großbritannien (2014)
Blamieren über Studieren: Eine obskure Studentengeheimschaft bildet die Grundlage für einen weiteren Exzessfilm.
The Tribe
Miroslav Slaboshpitsky, Ukraine (2014)
Ohrenbetäubende Stille: Das Drama des Ukrainers Miroslav Slaboshpitsky kommt ohne gesprochene Dialoge aus.
Timbuktu
Abderrahmane Sissako, Frankreich (2014)
Schleier des Regimes: Die Kuh eines Hirtenjungen stirbt. Bei Abderrahmane Sissako Anlass genug für filmisches Gefälle.
Tu dors Nicole
Stéphane Lafleur, Kanada (2014)
Ein schönes Nichts: Der Drang nach Jugenderhaltung in Kanada. Eine luftige Generation geplagt vom „Ziel“.
Underdog
Kornél Mundruczó, Ungarn (2014)
Die Liebe und die Rache der Hunde: Ein durchkonstruiertes, doch effektives Zuspiel verschiedener Genre-Konventionen.
Welcome to New York
Abel Ferrara, USA (2014)
Die Macht des Triebes: Die nüchterne Bestandsaufnahme einer parasitären Selbstgefälligkeit.
Whiplash
Damien Chazelle, USA (2014)
Bum, bang bang: In fünf Schlägen pro Sekunde trommelt sich Damien Chazelle in die Psychose eines Schlagzeugers.
Wild Tales – Jeder dreht mal durch!
Damián Szifrón, Argentinien (2014)
Die Zerstörungswut des Wahnsinns: Sogar die Komödie explodiert in Damián Szifróns schwarzer Groteske, bis sie nicht mehr schwarz ist.
Winterschlaf
Nuri Bilge Ceylan, Türkei (2014)
Pulverfass der Worte: Die Palme d’Or für dreieinhalb-stündiges, prachtvolles Wortgefechtskino.
Xenia
Panos H. Koutras, Griechenland (2014)
Bunny-Alarm: Der neue griechische Wunderfilm, wie er leibt, lebt und dröhnend wütet. Inklusive Hase.
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