Miroslav Slaboshpitsky mag Stummfilme. Denn dort versteht man alles, ohne dass auch nur ein Satz gesagt werden müsste, ganz ohne viele Texttafeln. Dies war für ihn hauptsächlich Beweggrund, „The Tribe“ zu drehen – ein 130-minütiges Drama über Schüler in einem ukrainischen Gehörloseninternat. Die Charaktere des Films kommunizieren ausschließlich mit Gebärdensprache; die so entstehenden Unterhaltungen werden weder durch ein Voice-over noch durch Untertitel übersetzt. So verlieren wir uns schnell in dieser völlig fremden Sprache, die teilweise so schön und wenige Sekunden später so unglaublich aggressiv wirken kann. Ruhige Dialoge werden mit kleinen, zärtlichen Gesten, Streitigkeiten mit ausufernden, das Gegenüber auch berührenden Bewegungen geführt. Es kann auch vorkommen, dass ein Gesprächspartner durch besondere Umstände gar nicht in der Lage ist, sich zu unterhalten. So ergeht es Sergey, der neu im Internat angekommen ist. Mit einem Koffer in der einen und einer großen Tasche in der anderen Hand steht er auf dem Schulhof, während ein Schüler in Gebärdensprache auf ihn einredet. Er führt Sergey mit schnellen Schritten durch die Schule und stellt ihm einige der anderen Jungen vor. Ehe sich Sergey versieht, scheint er in einer brutalen Gang der Schule aufgenommen worden zu sein. Sie schikanieren die Kleineren, verprügeln und rauben Passanten aus, prostituieren Mitschülerinnen auf einem in der Nähe gelegenen Truckerparkplatz.
Der Blick von „The Tribe“ in das Leben gehörloser Schüler ist dabei unentwegt ein trister, unangenehmer und brutaler. Jede im Film vorkommende Szene wurde in einem Stück gefilmt, wobei die Kamera ein ruheloser Begleiter ist – ein stiller Voyeur. Dadurch fühlt man sich schnell als Mittäter. Das Geschehen ist nur einen Handgriff entfernt, aber die Kamera schreitet nicht ein: Sie filmt den Strudel aus Sex und Gewalt kommentarlos in teilweise quälend langen, aber zugleich intensiven und faszinierenden Einstellungen, die Slaboshpitsky ausnahmslos mit gehörlosen Laiendarstellern filmte. Als klar wird, dass es kein Entrinnen, keine Hoffnung gibt, tun sich Abgründe auf, obwohl dieser ukrainische Film trotz der Tristesse so gut wie nie aufgesetzt oder gewollt provokant inszeniert wirkt. Die schmale Grandwanderung ist sogar ein voller Erfolg, welcher beim diesjährigen Festival de Cannes zurecht mehrfach ausgezeichnet wurde. Gewarnt sei man dennoch: Wer sich in der stillen Gewalt von „The Tribe“ verliert, geht das Risiko ein, danach schockiert und sprachlos den Kinosaal zu verlassen.
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