Es war nicht einmal Sommer – und die Erde einiger Cinephilen brannte bereits lichterloh. Zu jenem Zeitpunkt nämlich gab Senator Film die Zwangsverscherbelung von Jonathan Glazers „Under the Skin“ auf DVD und Blu-ray bekannt. Ein Werk graziöser Bildgewalt sollte sich der Angst eines Verleihs unterwerfen, der schon im Drehbuchstadium die Rechte am Endprodukt erworben hatte, sich aber wohl nicht bewusst war, dass der Name Glazer mit ihrem bisherigen Pseudo-Independent-Kuschelprogramm kollidieren könnte. Es regte sich Widerstand. Eine Facebook-Seite wurde ins Leben gerufen, um „Under the Skin“ neben einer kurzen Festivalselektion auf dem Filmfest München und Fantasy Filmfest auch regulär ins Kino zu holen. Schließlich zeigten ihn vor allem viele wunderbare kleinere Lichtspielhäuser in Eigenregie. Jonathan Glazers „Under the Skin“ kam somit letztlich doch noch an jenem Ort an, den Film grundsätzlich verdient: im Kino. Doch nicht jeder Film kann euphorisierte Beschwerdestürme bündeln. Allein, weil es manchen, die vielleicht wie Jonathan Glazers Film in diese Rubrik fallen würden, zunächst an einem deutschen Verleih mangelt. Wo also rebellieren? Und wozu?
Vielleicht ist Rebellion auch das grundsätzlich falsche Wort. Denn ohne einen gewissen Pegel des Interesses, wie er bei „Under the Skin“ leichthin durch das sozialmediale Refugium um Facebook, Twitter, Blogs und Foren erreicht wurde, dümpeln viele Filme von Festival zu Festival. Die örtlichen Publikumsstimmen mögen da noch so berauschend sein und von kinematischer Magie und Energie sprechen, während die Mundpropaganda von Cannes nach München schwappt: Meist nützt es nichts, weil der Weg eines Films nach einer lockeren Festivaltour in den Regalen seines Produktionslandes endet. Aber dieses Meist gilt es zu ändern. Und wir sind uns ebenso sicher, dass dieses Meist auch geändert werden kann, sofern immer und immer wieder über jene Filme berichtet, gequengelt, debattiert wird, die uns in höchstem Maße am Herzen liegen – denen wir im Angesicht ihres überschäumenden Eifers, neue Geschichte zu erzählen und zu visualisieren, mit ebensolchem Ehrgeiz beikommen. Damit sie nicht nur uns, sondern fortwährend ein gänzlich neues Publikum finden. Dazu bedarf es auch einiger Egozentrik. Und des Mutes, Entscheidungen zu treffen, die unbequem sind und sich einem Publikum in fisseliger Handarbeit erst öffnen müssen. Das Kino selbst ist nämlich kein Hort für die Zuhause-Hocker, Gelegenheits-Kinogutschein-Einlöser, die Downloader und Erdnussflipknabberer. Nicht nur.
Also lasst uns hinterfragen, was die deutschen Verleiher bislang nicht exzessiv zu hinterfragen wagten: dass jene folgenden elf Filme eine Auswertung im breiten festivalunabhängigen Rahmen verdienen. Und dass sie nicht die einzigen bleiben sollten. Tag für Tag präsentieren Regisseure auf der ganzen Welt nämlich Stoffe für eine Zielgruppe, die mehr und anders sehen will. Einer Zielgruppe, der Kino wortwörtlich unter die Haut geht.
Alleluia
In vier stetig eskalierenden Akten und kompromisslosen Bildern schildert der belgische Regisseur Fabrice Du Welz mit seinem neuen Film „Alleluia“ eine Abstraktion des Fanatismus. Dabei spart er auch nicht mit mehr oder weniger subtil gesetzten religiösen Symbolen (ein Neon-Schild mit der Aufschrift Faith), zeichnet damit Extreme der Liebe auf und erschafft eine psychologische Irrwitzigkeit, die nicht von ungefähr an die Provokation eines Lars von Trier erinnert. Das fängt schon mit dem bezeichnenden Namen der Hauptprotagonistin an: Gloria (Lola Dueñas: optisch und von der darstellerischen Energie quasi das spanische Pendant zu Charlotte Gainsbourg) – eine alleinstehende Frau, deren Sozialisierung nur noch im Leichenschauhaus stattfindet, weshalb sie sich online mit dem geheimnisvollen und auch gerne mit den Elementen hantierenden Michel (Laurent Lucas) trifft und schnurstracks von ihm verführen lässt.
(Pierrot Le Fou bringt den Film nun am 16. Oktober 2015 im hiesigen Heimkinomarkt heraus.)
Casa Grande
Fellipe Barbosa ist in Rio de Janeiro geboren und durchlebte eine ähnliche Geschichte wie sein herausragender Protagonist Jean (Thales Cavalcanti) in seinem Debüt „Casa Grande“. In einem riesigen Haus voller Schein und Lüge wächst der 17-jährige Brasilianer in luxuriösen Bedingungen auf: Er wird jeden Tag von einem eigens angestellten Fahrer zur privaten Eliteschule gefahren, das gefährliche Leben in der von Favelas umgebenen Stadt ist für ihn sicher, der besorgte Vater Hugo behält über sensible Alarmanlagen und Überwachungskameras den kontrollierenden Überblick. Plötzlich wird jener Fahrer entlassen, er mache Ferien und besuche seine Familie, wird Jean erzählt. Es werden ununterbrochen Bezüge hergestellt aus Vergangenem und Neuem. Dieser künstlerische Formalismus rahmt in betonender und diffamierender Weise die vielen Konfliktpunkte des Konformismus in Brasilien ein.
Jauja
Hauptmann Gunnar Dinesen (Viggo Mortensen) stapft durch das Unterholz nahe der Patagonischen Küste; seine Tochter fort, sein Herz schwer, seine Erinnerung trüb. Ein Schlaraffenland soll es sein, wo er landete, sich entdecken und positionieren könnte. Stattdessen rafft ihn die Fantasie nieder, während um ihn die „Kokusnussköpfe“, die Ureinwohner, rotieren. Das Paradies heißt im Spanischen auch Jauja. Und „Jauja“ ist ein wundervolles Werk unter jenen mit einer Hand abzählbaren Filmen, die zu gerne wissentlich auf Halde liegen, sich bis aufs Unmöglichste tiefstapeln und den Zuschauer letztlich im Verdruss beglücken, der länger als mehrere Sichtungen und sogar länger als mehrere Wochen anhält. Lisandro Alonso prüft mit schwereloser Barbarei, was sich in diesem Medium noch binden und was sich lösen lässt, was sich klären sollte und unausgesprochen vielmehr exzentrisch bleibt. Weil er eine Machete immer wieder in die Rinde des Visuellen schlägt und den dabei empfundenen, zunächst geringen Unterhaltungstrieb bis in die Besinnungslosigkeit tanzen lässt.
Life Itself
Der Dokumentarfilmer Steve James wollte eigentlich nicht die letzten fünf Monate und den Tod Roger Eberts porträtieren, sondern sein Leben. Mit „Life Itself“ fängt er beides ein. Der Film ruht auf Ebert: als Protagonist und gleichwohl als Regisseur – seines eigenen Lebens und des hier mittels Steve James’ verfilmten. James zeigt, was sein Publikum lieber missen möchte, aber Ebert zwingend für notwendig erachtet. Er ist es, der seinen Regisseur direkt auffordert, ihn eben so zu zeigen: malträtiert, manchmal von Schmerzen zermürbt, zunächst beinahe und schließlich endgültig niedergerungen vom Krebs. Einmal erinnert Ebert ihn, dass dies nicht nur sein Film wäre. Die Aufforderung gilt auch einer früheren Episode seines Lebens, als sein intimer, kollegialer Hassfreund Gene Siskel unerwartet an einem Gehirntumor starb. „Life Itself“ prägt nicht die manipulierte und manipulative Hand eines gewieften Regietaktikers, sondern ein Herz für den Moment – und reich an bunten Facetten wirkt Eberts Leben in jeder Sekunde.
Little Feet
Alexandre Rockwell wollte einen Film mit Menschen drehen, die er liebt und den er alleine, ohne ein großes Studio im Nacken finanzieren und produzieren konnte. Das Ergebnis heißt „Little Feet“, in dem seine beiden Kinder die Hauptrollen spielen, und ist ein schwarz-weißes Indie-Mumblecore-Roadmovie, das unheimlich herzerfrischend und ehrlich daherkommt. Das Drehbuch schrieb Rockwell zusammen mit seiner Tochter Lana. Und die niedlichen, kindlichen Einfälle, die Lana während der Arbeit mit ihrem Vater gehabt haben muss, spüren wir den ganzen Film über. Die drei Kinder gehen, rennen, tanzen und fahren durch das in wunderschön monochromen Bildern eingefangene Los Angeles. Ihre kindliche Naivität und Unerschrockenheit lädt dazu ein, sich an vergangene Kindertage zurückzuerinnern, in denen man selbst noch Neues und Unbekanntes entdeckte. Dabei geht es um viel mehr, als um die bloße Suche nach einem Freund für den Goldfisch: Denn Lana und Nico haben in letzter Zeit noch mehr verloren.
Our Sunhi
Das moderne südkoreanische Kino ist seit Jahren in aller Munde und darf ohne Frage zum mutigsten, aufregendsten und packendsten weltweit gezählt werden. Aber wo Regisseure wie Kim Jee-woon oder Bong Joon-ho perfekt durchgestylte Momente aneinanderreihen, stellt Filmemacher Hong Sang-soo eine Kamera auf, lässt diese fünfzehn Minuten laufen und filmt seine Charaktere dabei, wie sie sich alles von der Seele reden. Was anstrengend klingt, funktioniert ausgezeichnet. Hong schafft es dadurch, den Zuschauer sehr schnell in das Geschehen zu ziehen und seine Charaktere innerhalb weniger Minuten hervorragend vorzustellen. Was andere Filme in knapp neunzig Minuten kaum schaffen, gelingt „Our Sunhi“, bevor ein Bier komplett geleert wurde. Alleine das macht diese kleine koreanische Perle sehenswert. Dass der Film außerdem ganz clever sowohl mit seinen Charakteren als auch mit dem Zuschauer spielt, ist ein gern gesehener Bonus. Es kann nämlich auch wundervoll sein, dabei zuzusehen, wie sich zwei Menschen betrinken. Prost.
Stratos
Die ganze Welt lacht und weint; doch oft findet man Nischen, die nirgends wirklich hineinpassen, weil sie so anders und einzigartig sind, dass es zu einer hohen Polarisation führt. Ein Beispiel für eine solche Nische ist der auf der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb uraufgeführte „Stratos“ von Yannis Economides aus Zypern. Er ist etwas für Freunde weniger Worte und der Schlagfertigkeit: eine griechisch-lakonische Mixtur aus Thriller, Drama und makaberer Komödie. Dieses für viele befremdlich wirkende Werk hat es in sich, weil es mit gnadenloser Rigorosität glänzt. In unglaublich langsamer Erzählart steigt die Radikalität auf steinigen Stufen nach oben, niemals beschleunigend, nüchtern schockierend, auf unangenehm angenehme Weise konsequent und stilsicher. Diese Stufen führen ins Nichts, in die aus den Umständen sinntriefende Bedeutungslosigkeit einer griechischen Gesellschaft, so barbarisch und brutal, dass Gewalt nicht nur als Lösung von Problemen fungiert, sondern als fressender Alltag. Diesem Film muss man sich hingeben.
(Real Fiction gab im Februar 2015 bekannt, den Film am 19. Februar ins Kino zu bringen.)
The Double
In Richard Ayoades zweitem Spielfilm „The Double“ erlebt ein neurotisch-schüchterner Arbeiter seinen ganz persönlichen manifestierten Albtraum, als ein Doppelgänger von ihm auf der Firmenleiter hinaufsteigt und ihm auch noch seine potenzielle Freundin ausspannt, während der Rest der Welt grundlos feste auf ihm herumtrampelt. Klingt kafkaesk, basiert dann aber doch auf Fjodor Dostojewski; allerdings nicht minder unheimlich und bedrückend, nur eben als absurde Komödie inszeniert. Den gepeinigten und von seinen Kollegen als unscheinbar behandelten Protagonisten gibt dabei Jesse Eisenberg, der sich fortan in der tricktechnisch famos-gelösten Doppelrolle von Simon James/James Simon beweisen kann. Daraus entwickelt sich schließlich ein schnittiger Bann im Dunkel übermächtiger, scheinbar grenzenlos verdichteter Wände, in der kein natürlicher Lichtstrahl durchkommt. Wohl aber die elliptische Paranoia per Bild, Ton und Schauspiel, in der nur noch die zugefügten Wunden jene konkurrierenden Identität(en) bestimmen und ultimativ vereinen können.
(WVG Medien GmbH bringt den Film nun am 24. Juni 2016 im hiesigen Heimkinomarkt heraus.)
The Tribe
Miroslav Slaboshpitsky mag Stummfilme. Denn dort versteht man alles, ohne dass auch nur ein Satz gesagt werden müsste. Dies war für ihn hauptsächlich Beweggrund, „The Tribe“ zu drehen – ein 130-minütiges Drama über Schüler in einem ukrainischen Gehörloseninternat. Die Charaktere des Films kommunizieren ausschließlich mit Gebärdensprache; die so entstehenden Unterhaltungen werden weder durch ein Voice-over noch durch Untertitel übersetzt. So verlieren wir uns schnell in dieser völlig fremden Sprache, die teilweise so schön und wenige Sekunden später so unglaublich aggressiv wirken kann. Jede Szene wurde in einem Stück gefilmt, wobei die Kamera ein ruheloser Begleiter ist – ein stiller Voyeur. Das Geschehen ist nur einen Handgriff entfernt, aber die Kamera schreitet nicht ein: Sie filmt den Strudel aus Sex und Gewalt kommentarlos in teilweise quälend langen, aber zugleich intensiven und faszinierenden Einstellungen. Wer sich in der stillen Gewalt von „The Tribe“ verliert, geht das Risiko ein, danach schockiert und sprachlos den Kinosaal zu verlassen.
(Rapid Eye Movies gab im Februar 2015 bekannt, den deutschen Verleih übernommen zu haben.)
Visitors
Godfrey Reggio kennt man noch zu gut von seiner Qatsi-Trilogie; in der Form kann man auch von seinem neuen Film „Visitors“ einige ähnliche filmische Sprachformen erwarten, nur eben in einem ganz anderen Tempo. Denn wo „Koyaanisqatsi“ (1982) beleuchtete, welchen Einfluss der Mensch auf seine Umgebung hat, ist hier hauptsächlich das Menschsein im Blickfeld. Grundlos hat der Film seinen Titel jedenfalls nicht verdient. Mit dem Titel „Visitors“ und dem Umstand, dass Reggio vereinzelt über den Mond schwebt, steigt im Zuschauer die Suggestion auf, vielleicht aus den Augen eines außerirdischen Besuchers zu sehen – immerhin ist jenes virtuelle Auge auch noch dazu fähig, seine Motive in Zeitlupe und im Zeitraffer zu analysieren. Kino und Film als Ausdruck und Aufnahme der Lebendigkeit und der Humanität – hier so schnörkellos und scheinbar minimalistisch, aber doch eben so atemberaubend dargestellt, wie auch das Erleben von Gefühlen an sich ist.
Why Don’t You Play In Hell?
Shion Sonos Hommage an den Enthusiasmus des Filmemachens, „Why Don’t You Play In Hell?“, punktet mit ausgelassener Wildheit und bietet einen kruden Genre-Mix, der vor allem der knalligsten Leinwandkomponente, dem spritzenden Blut, die Ehre erweist. Die Handlung, welche auf solch eine Klimax hinarbeitet, ist dementsprechend naiv gezeichnet. So steigt man nach einem Zahnpasta-Spot in die euphorische Truppe der Fuck Bombers ein, junge 8mm-Cine-Begeisterte um den Regisseur Hirata (Hiroki Hasegawa), die eines Tages in eine Gang-Keilerei stolpern, die Situation ausnutzen und mit abgeklärtem Risiko filmen, was das Zeug hält. Es hält sich aber alles bewusst im Rahmen einer schrulligen Komödie auf, welche der rationalen Realität schon anhand des abstrus-verwickelten Plots durchgehend entsagt und mit anarchischer Freimütigkeit auf allen gestalterischen und narrativen Ebenen zur Energie des Selfmade-Kinos aufruft. Sonos Film ist daher ein Hort der exploitativen Trivialität geworden: schroff, schrill und meist recht belanglos.
Meinungen
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Bisherige Meinungen
Ei. Und da sind ja mal bannich viele Top Streifen dabei.
Ich möchte noch einen Film hinzusetzen, der immerhin auf ein paar deutschen Festivals schon Stippvisite gemacht hat: O MENINO E O MUNDO (DER JUNGE UND DIE WELT)von Alê Abreu. Großartiges Kino, nicht nur für Kinder, auch wenn es oberflächlich zunächst so aussieht. Habe ihn hier ausführlich besprochen: http://www.kino-zeit.de/filme/der-junge-und-die-welt
Ein schöner Text für mehr Leidenschaft im Filmprogramm und eine schöne Filmliste!
Ein Film den ich hinzufügen würde ist FRANK mit Michael Fassbender. http://www.protagonistpictures.com/films/frank
Wobei der auch gleichzeitig als Beispiel dient warum ich die Zeile „was die deutschen Verleiher bislang nicht exzessiv zu hinterfragen wagten“ für zu einseitig halte. Gerne würd ich den Film zeigen oder in einem Verleih meines Vertrauens sehen, aber Protagonist – verantwortlich für die ‚international sales‘ – haben (Erfolgs)Forderungen die kein einzelnes kleines Kino oder ein kleiner Verleih erfüllen kann. Euer Text lässt sich als Mutlosigkeitsvorwurf an ALLE dt. Verleihfirmen verstehen, dem würde ich zumindest noch die Finanz- und Machtlosigkeit der kleinen Alternativen hinzufügen.
Gruß,
sebastian