Es war 1969 und Roger Ebert gerade einmal zwei Jahre bei der Chicago Sun-Times angestellt, für die er weitere 44 bis zum 4. April 2013 tätig sein sollte, da schrieb er das Drehbuch zu Russ Meyers „Blumen ohne Duft“ („Beyond the Valley of the Dolls“, 1970) . Damals fragten sich Kollegen und Freunde, was Ebert wohl geritten haben möge, für den mit dem sexuellen Akt besessenen Meyer ein Skript zu verfassen. Vermutlich lag es an einer simplen Obsession, welche Ebert und Meyer gewissermaßen bis zu einer tiefen Freundschaft und in später insgesamt drei Kollaborationen teilten: nämlich jene zur Brust – zur großen weiblichen Brust, eine rechts, eine links. The Austin American-Statesman urteilte damals über den Film, er sei „eine Sauerei, ein Desaster, ein Stinker, der grässlichste aller grässlichen Filme“. Roger Ebert selbst hätte Autor dieser Kritik sein können, er hätte in seinen Worten Liebe oder Hass übermittelt, aber immer ein Gefühl aus dem Innersten, auch wenn es bizarrerweise die Zerstörung eines Films bedeuten konnte. Als der „bekannteste Filmkritiker Amerikas“ an jenem Donnerstag im April letzten Jahres starb, hatte er erst zwei Tage zuvor seine Leser wissen lassen, dass es ihm schlechter ginge und er weniger arbeiten wolle. Der Dokumentarfilmer Steve James wollte eigentlich nicht die letzten fünf Monate und den Tod Roger Eberts porträtieren, sondern sein Leben. Mit „Life Itself“ fängt er beides ein.

Der Film ruht auf Ebert: als Protagonist und gleichwohl als Regisseur – seines eigenen Lebens und des hier mittels Steve James’ verfilmten. Obwohl er seit 2002 an Schilddrüsenkrebs litt und vier Jahre später nach einer Unterkieferamputation nicht mehr sprechen, weder essen noch trinken konnte, schrieb und sah Ebert weiter, als ob nicht er selbst die Hauptrolle in seinem Leben spielte, sondern der Film. Diese Szenen – wenn die Kamera ungezügelt aber nie lustvoll auf seinen geöffneten Mund, die weißen Zähne und den Hautlappen stiert, der als einziger Verbleib noch einen Unterkiefer imitiert –, diese Szenen sind es, die (insbesondere emotional) schaudern lassen, weil sie beinahe zu viel Wahrheit für einen Film, sogar für einen biografischen Dokumentarfilm enthalten. Steve James zeigt, was sein Publikum lieber missen möchte, aber Ebert zwingend für notwendig erachtet. Er ist es, der seinen Regisseur direkt auffordert, ihn eben so zu zeigen: malträtiert, manchmal von Schmerzen zermürbt, zunächst beinahe und schließlich endgültig niedergerungen vom Krebs. Einmal erinnert Ebert ihn, dass dies nicht nur sein Film wäre. Die Aufforderung gilt auch einer früheren Episode seines Lebens, als sein intimer, kollegialer Hassfreund Gene Siskel – welcher mit ihm die Sendung für Populärkritik per se, „Siskel & Ebert“, von 1986 bis 1999 führte –, unerwartet an einem Gehirntumor starb. Doch Siskel behielt seine Erkrankung für sich, Ebert konnte sich nie von ihm verabschieden. Auch dieser Zwang positioniert in „Life Itself“ die beiden kongruenten Elemente Mensch und Arbeit nebeneinander, um die Passion zum Film äquivalent ohne jede Metaphorik zu präsentieren.

Werner Herzog nannte ihn einst einen „Soldaten des Kinos“; Martin Scorsese gab er aufgrund einer Hommage beim Sundance Film Festival sogar den unbedingten Lebenswillen zurück, nachdem dieser infolge einer Überdosis Kokain beinahe gestorben wäre: Roger Ebert könnte mehr ein Held des Films in seinem eigenen Film sein, als Steve James später und äußerst wohlig-süffisant zulässt. So mäandert er vielmehr in rastloser Akrobatik (stilsicher, aber niemals Stil prägend) durch winzige Schauspielwechsel, von einem Freund zum nächsten, über gleich gesinnte Kritiker und Journalisten zu debütierenden Regisseuren, in echauffierte Schnipsel seiner eigenen Artikel und ebenso in seine frühe Alkoholsucht, über die er seine Frau Chaz Ebert kennenlernte. James selbst profitierte mit seinem Debüt „Hoop Dreams“ (1994) von Eberts stürmischer Euphorie, die ausbrach, wenn er hin und wieder einen Film sah, welcher sein Herz wortwörtlich im Sturm eroberte, den sonst aber niemand zu bemerken schien. „Life Itself“ prägt ohnehin nicht die manipulierte und manipulative Hand eines gewieften Regietaktikers, sondern ein Herz für den Moment – und reich an bunten Facetten wirkt Eberts Leben in jeder kühnen Sekunde.

Steve James wringt aber gewiss aus jeder Kritik über seinen Film auch eine persönliche, eine emotionale Komponente heraus, eine hier überaus relevante, notwendige eigene Meinung des Autors über den Kritiker, aber auch Menschen Roger Ebert. Ich selbst weiß nicht, wann ich einen Artikel Roger Eberts zum ersten Mal las, aber ich weiß, wann ich es vor seinem Tod zuletzt tat. Einige Tage vor dem 2. April 2013 und seiner letzten Mitteilung „A Leave of Presence“ (zu Deutsch: „Ein Abschied von der Anwesenheit“) suchte ich schon nach einem Lebens- oder vielmehr Arbeitszeichen. Dabei bedeuteten mir die Kritiken Eberts nie immens viel: Zwar schätzte ich den Menschen, doch viel mehr als Respekt seiner unwirklichen Arbeitswut wegen verlangte mir sein Stil nicht ab. Vielleicht auch, da Ebert im Leser noch bewegen wollte, was Film für ihn bedeutete, sich selbst allerdings auch scheinbar vollends zurückziehen konnte. Doch zeigte mir der eben manchmal so ungeliebte Populärkritiker Roger Ebert auch, was Film im Kern seiner Existenz bedeutete: das Leben selbst. Eine Überhöhung dessen, sicherlich. Aber von Grund auf ein Gefühl des Behangens, der Sprachfindung und des Glaubens an neue, abseitige Welten, in denen wir uns nochmals und immer wieder entdecken. I’ll see you at the movies, Roger.

Meinungen

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