Körper rasen über Parkett. Körper schlaksiger, schwarzer Jungen mit sehnigen Armen und Beinen, deren Hände wie magnetisch einen Ball einfangen. Immer und immer wieder stolpern oder fliegen sie schon über den Belag. Ein dumpfes Poltern begleitet ihren Ritt, während die orangefarbene Gummiblase sich hebt und senkt. Dann: ein Bruch, eine nun atonale Symphonie, eine Wendung, von außen ungeplant, ungelenk, doch im Innern flüssiger als der Strom des Wassers. In einer halben Pirouette wirbelt einer der Körper, dribbelt entlang, zieht zum Korb. Ein Wurf, ein Bogen, zwei Punkte. William Gates schwirrt um das Feld, sein Arm reckt sich triumphierend empor. Doch es könnte ebenso Arthur Agee Jr. sein. Beide besuchen sie die St. Joseph High School in Westchester, Illinois. Vorstadtsiedlungen, Kriminalität, Schüsse vor der Haustür, arbeitslose Mütter, der Finger am Abzug zu Drogen. Permanent. Trotzdem immer diese Träume. Der Traum vom Fliegen. Der Traum von einem Lebensunterhalt allein mittels dieses Traums. „Hoop Dreams“ nannte Steve James sie, die Träume über den Tellerrand und den Glauben hinweg, man könne alles erreichen, wenn man nur lang genug daran denkt. Amerika: unendliche Träume, unendliches Scheitern. Eine Oase und eine Wüste. Was bleibt noch, wenn der Traum zerplatzt?
William Gates sagt am Ende von „Hoop Dreams“: „Vergesst mich nicht, wenn ich es nicht in die NBA schaffe.“ Es ist ein Leben geprägt von der Angst um die Zerstörung eines Umfelds, vom Talent vieler und vom Glück weniger afroamerikanischer Jungs, die aus dem Ghetto dringend ausbrechen möchten. Doch als Regisseur Steve James über die staubigen Distrikte Chicagos surrt, bleibt die Hoffnung der Menschen unsichtbar. Weil dort nichts ist, weil dort vielleicht nie wieder etwas sein wird. Dann passiert etwas. Wie ein Lichtschalter, von dem man nicht wusste, dass es ihn gab. Plötzlich ist da Hoffnung. Aber vor allem Freude, ein grenzenloser Spaß in wendigen Bewegungen mit einem Funkeln in den Augen. William Gates, ein Junge mit Aussicht auf die Highschool, wächst in Cabrini-Green auf, Sozialwohnung an Sozialwohnung. Nun gibt es das Projekt nicht mehr, damals aber – Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger – war es alles, was beinahe fünfzehn Tausend Menschen, überwiegend Schwarze, hatten. Graffiti prangt an den Wänden, Müll stappelt sich, fließend Wasser und Strom bilden eher die Ausnahme denn die Regel. Arthur Agee dagegen, ebenso ein Verlorener an den Basketball, wächst in West Garfield Park auf, winzige, schmuddelige Reihenhäuser Glied an Glied. Der einzige Wohlstand hier ist die Familie.
Beide rekrutiert man früh; Arthur sogar wurde durch Earl Smith, ein inoffizieller Talentsucher, schon entdeckt, als er noch die Grammar School (ein Äquivalent zur deutschen Grundschule) besuchte. Beide wachsen unter Vätern auf, die manchmal vollkommen aus dem Leben ihrer Kinder verschwinden, als hätte es sie niemals gegeben. Beide fühlen sich ihren Müttern eng verbunden. Und beide kommen in der Schule äußerst schlecht zurecht. Trainer Gene Pingatore von der St. Joseph’s Catholic School überzeugt beide, sich ihrer anzunehmen, sie vielleicht sogar in die NBA zu führen. So fahren sie täglich zwei, drei Stunden mit dem Bus zu einem Vorort im Südwesten Chicagos. Dort treffen sie einander, doch ihre Zukunft ist anhand ihres Könnens vorbestimmt. William wird während seines ersten und zweiten Jahres an der Schule zu einem Basketballspieler, der den Vergleich mit seinem Idol Isiah Thomas provoziert, aber niemals scheuen muss. Arthur hinkt hinterher und scheitert an den meisten Kursen, bis er schließlich darum gebeten wird, die Schule zu verlassen, weil seine Eltern nicht länger die Unterrichtsgebühr entrichten können. Seine Mutter träumt, irgendwann eine Krankenschwester zu werden; sein Vater hetzt vielmehr Crack und einer guten Schlägerei nach, als für Geld zu sorgen. Allen gemein sind die „Hoop Dreams“. Auch wenn den Sprung von Traum zu Realität letztlich niemand schaffen sollte.
Die realen Tragödien aber ereigneten sich erst später, Jahre, nachdem Steve James und seine Kamera fort waren, das Leben aller Familienangehörigen sich aber noch immer um ihre Jungs und deren Karrieren mit jenem orangefarbenem Gummiball drehte. Williams Bruder, Curtis, wurde 2001 in Chicago während eines Autodiebstahls ermordet. Arthurs Vater, Bo, starb 2004, als er nach einem Raub flüchtete. Der Weg aus Armut, Missbrauch, Drogen führt lediglich über den Sport, denn einen anderen Weg brachte man nicht nur diesen zwei Jungs niemals bei. Die Stereotype leben: aktiv, fruchtbar; wie die Laterne, die Arthurs Familie schließlich aufstellt, als ihnen Gas und Strom abgedreht werden. Ein Licht ohne Alternative für weitere Generationen. So verschwindet vielleicht auch Arthur aus dem Leben seiner mittlerweile fünf Kinder von Zeit zu Zeit – und vielleicht träumt er wie sein Vater vor ihm, sein Sohn werde irgendwann, irgendwo Basketball in der NBA spielen. Die zwei Jungen William Gates und Arthur Agee sollten zu Männern werden, aber sie wurden es nie. So sehr „Hoop Dreams“ den endlosen Triumph einfängt, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen, so sehr ist es ebenso eine traurige Ode über Chancen, die nur wie Möglichkeiten scheinen, aber eigentlich Sackgassen sind.
Weil Steve James Menschen und ihre Träume einfing. Die „Hoop Dreams“ mögen nicht immer von Dauer sein, doch ist das Leben nicht mehr als nur dieser eine Traum? Irgendwann im Verlauf von 170 erfüllenden Minuten, gefiltert aus acht Jahren, begreifen William Gates und Arthur Agee, dass sie den Traum nicht zuende leben müssen, um ihn gelebt zu haben. Der Traum vom Fliegen gelang. Und wie sie flogen! Wenn auch nicht in die NBA, aber doch in ein Leben, welches von mehr noch erzählt als vom Sport: Es erzählt vom Scheitern in einem System, von der Determination allein der Gene und Herkunft wegen, die selbst im Erfolg ungeleugnet bleiben. William Gates spricht vom Vergessen. Vielleicht ebenso vom Vergessen ethnischer und bürokratischer Hürden. Vielleicht aber auch davon, würde man ihn heute nochmals fragen, dass sich diese Hürden seitdem noch immer auftun, dass sich nichts geändert hat, dass sich nichts ändern wird. „Hoop Dreams“ ist kein historisch so blendender Tanz zwischen den Ebenen weil er absonderlich einmalig scheint, sondern weil diese Geschichte der zwei Jungen, die sich in eine bessere Welt träumen wollten, eine Geschichte ist, die dort draußen Tag für Tag stattfindet. Die Offenbarung: Es gibt sie – selbst heute – nicht.
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