Godfrey Reggio kennt man noch zu gut von seiner Qatsi-Trilogie; in der Form kann man auch von seinem neuen Film „Visitors“ einige ähnliche filmische Sprachformen erwarten, nur eben in einem ganz anderen Tempo, mit einem thematisch nahen, aber in eine andere Perspektive gesetzten Kontext. Denn wo beispielsweise „Koyaanisqatsi“ (1982) beleuchtete, welchen Einfluss der Mensch auf seine Umgebung hat, ist hier hauptsächlich das Menschsein im Blickfeld. Dabei bleibt natürlich genug Interpretationsraum, was und ob hierin ein Narrativ aufgebaut wird oder auch in welcher Position wir uns als Zuschauer befinden. Wie auch immer man in seiner eigenen Gedankenformierung entscheidet (in die Richtung will der stumme, doch sehr musikalische Film uns ja lenken), grundlos hat der Film seinen Titel jedenfalls nicht verdient.
Zunächst muss gesagt werden, dass Reggio uns extrem direkte und einnehmende Bilder in stark kontrastreichem Schwarz-Weiß liefert. Diese beinhalten: menschliche Gesichter, Hände, starre Gebäude, Natur, Müll, eine Gorilladame namens Triska und vereinzelte Vögel als seltene Lebewesen der eingefangenen Landschaften. Was genau stellt man mit diesen Bildern an? Nun, das erste Gefühl, das man unweigerlich empfinden wird, ist Konfrontation, doch stellt diese immerhin eine gewollte Konfrontation für uns als willige Filmzuschauer dar. Und egal, in welche Formen oder Gesichter man hineinblickt: Irgendwann fühlt sich jener Blickkontakt schlicht persönlich an, in geringster Form wie ein Staring Contest, im tieferen Sinne aber auch wie ein mentales Verhör – wobei die Frage offenbleibt, ob die Bilder und Lebewesen in ihnen auf uns reagieren.
Mit dem Titel „Visitors“ und dem Umstand, dass Reggio vereinzelt über den Mond schwebt, steigt im Zuschauer die Suggestion auf, vielleicht aus den Augen eines außerirdischen Besuchers zu sehen – immerhin ist jenes virtuelle Auge auch noch dazu fähig, seine Motive in Zeitlupe und im Zeitraffer zu analysieren. Und je nach Zuschauer kann es dann auch variieren, was man in diesen detaillierten Analysen erkennt, denn obwohl Reggio eine Reihe von Emotionen, Bewegungen und Momenten aufbietet, bleiben diese einfach und teilweise abstrahiert, eben wesentlich, aber nicht extrem. Doch als menschlicher Beobachter besitzt man auch die Gabe der Wiedererkennung; und so einfach und lang, wie man in die dargestellten Menschen blicken kann, ist eine verständnisvolle Identifizierung nur eine Frage der Zeit, obwohl die Frage, warum sie so (auf uns?) reagieren, noch immer bleibt und umso stärker nach einer Lösung verlangt, da uns als Zuschauer direkt in die Augen zurückgeschaut wird.
Sind wir die theoretischen Schuldigen, bloße Beobachter und Analytiker, gar Reflexionen? Egal, was nun die Antwort ist: Wir lernen offenbar über die Human Condition Bescheid. Das wird stilistisch dadurch verstärkt, wie sich die Methode der Analyse im Verlauf des Films verändert: Die menschlichen und tierischen Emotionen (Triska = quasi stellvertretend als Menschen nähester Ursprung des Homo sapiens) werden zunächst in Zeitlupe aufgenommen – die seelenlosen, verlebten Gebäude und Umgebungen in Zeitraffer, als wenn man aufgrund deren inhärenter Starrheit damit ökonomischer begutachten will, ob etwas an ihnen im Laufe der Zeit passiert. Nachdem aber für den Beobachter immer deutlicher wird, wie viele kleinste, schönste Facetten in der Emotionalität, in der Seele des Lebens, stecken können, wird der Blick zur architektonischen Starre und Zerrissenheit sowie zur Natur ebenso in aufsaugender Langsamkeit vollzogen – da muss eben auch etwas lungern.
Bezeichnenderweise ist die andere große Komponente des Films, neben der tief aufschlagenden Visualität, der Score von Philip Glass, ein ewig treibender Prozess, aber eben kein frenetischer, stattdessen einer, der methodisch und respektvoll vordringen will, durch die tiefsten Furchen, entlang mancher intensiver Euphorien, aber doch immer mit dem gewissenhaften Existenzialismus eines, sagen wir mal Carter Burwell, funktionierend. Reggios visuelles Konzept handelt da im perfekten Einklang zur Musik, arbeitet sich aus scheinbar trostlosen bis skeptischen Gesichtern und nebeneinandergestellten Vergleichsexemplaren unterschiedlichster Erdenbürger (variiert in Alter, Geschlecht, Hautfarbe) in prägnante Alltagsbewegungen und -erscheinungen hervor, bis es dann schließlich die exemplarische Gruppenerfahrung eines Kinobesuches mit all seinen tollen, hervorgebrachten Stimmungsausbrüchen erlebt.
Dass es – beziehungsweise wir als Zuschauer – dann nochmals mit neuem Blick in die Natur zurückkehrt, um dort dieselben ekstatischen Lebenseindrücke womöglich wiederzufinden, mag zunächst wieder trister wirken, auch möglicherweise hinsichtlich dessen, was der Mensch und seine industrielle Extension mit ihr angestellt haben – klar ist das Bild von Sümpfen nicht unbedingt sofort mit Zersetzung zu assoziieren, im Kontext jener filmischen Gestaltung hier kann man dies als Visitor aber schon werten (eine interpretative Mutmaßung meinerseits, passt aber zu den Eindrücken und Themen vorheriger Reggio-Werke). Aber auch dort lässt sich letztendlich immerhin tierisches Leben finden. Wieder kommt Reggio dort – nach einem sehnsüchtigen Blick vom Mond aus auf die Erde – zurück auf Triskas direkten Blick in unsere Richtung, diesmal zieht er aber mit der Kamera etwas weiter nach hinten weg und offenbart dabei ein beobachtendes Publikum gegenüber der beleuchteten Leinwand.
Zum zweiten Mal setzt er die Kinoerfahrung ohne Zweifel in den übergreifenden Kontext weltlicher Beobachtung und sagt damit insgesamt mehr über die Kraft des Mediums aus, als ganze Bücher füllen könnten. Sein „Visitors“ ist in der Hinsicht die pure Essenz darüber, was Kino in und mit uns bewirken kann: die Suche und das Finden menschlicher Gefühle, Erfahrungen, Reflexionen unseres eigenen Wesens; die Offenbarung dessen, was uns als gemeinsame Menschheit verbindet und was wir in uns erforschen können, anhand von eingrabenden und schöpfenden Kameras, Tönen und Montagen. Ganz einfach: Kino und Film als Ausdruck und Aufnahme der Lebendigkeit und der Humanität – hier so schnörkellos und scheinbar minimalistisch, aber doch eben so aufballend-komplex und atemberaubend dargestellt, wie auch das Erleben von Gefühlen an sich ist. Oder: so gut und präzise, dass auch Außerirdische uns nach diesem Film verstehen dürften. Bis jetzt leider nicht in Deutschland erschienen, aber als Import auf DVD und Blu-Ray erhältlich.
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