Das Morrison Hotel in Dublin unterhält seinen alljährlichen Kostümball: Als Frauen gekleidete Männer tanzen mit als Männer gekleideten Frauen, während derweil ein seltsamer kleiner Kellner der Scharade in einer Ecke still beiwohnt. Tatsächlich ist diesem Mann, Albert Nobbs (Glenn Close), das ausschweifende Schauspiel um einen konservativen Identitäts- und Geschlechterdiskurs geläufiger und lebendiger, als der Adel des Kostümballs jemals meinen könnte. Denn Albert Nobbs ist in Wirklichkeit eine Frau.
Eine Frau, die in Rodrigo Garcías Adaption der Kurzgeschichte des irischen Romanciers George Moore einem Dickens’schen Charakter eines fremden Planeten gleicht – mit jenem verwaschenen, permanent ängstlichen Blick eines verschreckten Rehs, gebannt von dem langsam erlöschenden Licht der Dekadenz des späten 19. Jahrhunderts. Gewissenhaft zählt und vermerkt der Mann im Körper einer Frau sein Trinkgeld und seinen Lohn, um ihn unter dem Dielenbrett seines kargen Zimmers im Angestelltentrakt des zweistöckigen Hotels zu verbergen. Nur auf den einen Augenblick wartend, da er seinen Traum leben kann: eine winzige, demütige Tabakwarenhandlung in einem verwahrlosten Teil der Stadt zu kaufen. Entgegen der restlichen Belegschaft besitzt er wenig Sinn für Humor, wirkt scheinbar geschlechtslos; besonders im Aufeinanderprallen mit dem schlüpfrigen Dienstmädchen Helen (Mia Wasikowska). Währenddessen beschäftigt das Hotel den ungestümen, stämmigen Maler Hubert Page (Janet McTeer), der sich nach einer nächtlichen Debatte und fürchterlicher Panik Nobbs’ ebenso als Frau zu erkennen gibt. Eine Obsession entspinnt in Nobbs, will er doch das Ideal von Page mitsamt Frau (Bronagh Gallagher) und häuslichem Glück am Stadtrand Dublins nachahmen. Also führt er Helen aus und fantasiert von ihr als seiner zukünftigen Kameradin inmitten ehelicher Glückseligkeit, Tabak und einem gemütlichen Wohnzimmer als Zentrum seiner Welt.
Sowohl Albert als auch Hubert entfliehen mit ihrer geschickten Täuschung der Außenwelt männlichem Missbrauch, doch bewohnen ihre maskulinen Identitäten höchst unterschiedlich. Albert imitiert ein Verhalten, welches er für männlich definiert, während Hubert die Mimikry männlichen Daseins annimmt: raucht, trinkt, geht und liebt wie ein Mann. Selbst wenn Albert wollte, wäre er nicht imstande sich gänzlich dieser Maskulinität zu unterwerfen, weil er weder Liebe, noch Gemeinschaft und Ehe versteht. Für ihn ist Helen eine Marionette, um seine Träume zu erfüllen, und ihre Unfähigkeit diesen Wunsch auszuführen, gebärt indirekt aus der Unfähigkeit und eigentlichen Tragödie Alberts die Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen abseits stiller Kalkulation und Beharrlichkeit zu begreifen. Eigentlich ist die Transformation des weiblichen Nobbs zu einem männlichen Diener jedoch eine Geschichte eines tiefen Missverständnisses damaliger Verhältnisse – zumindest von Glenn Close, wenn nicht sogar auch von Regisseur Rodrigo García. George Moores Kurzgeschichte „The Singular Life of Albert Nobbs“ nämlich formt ein Standbild einer Ära, in der jede Staffage nicht mehr nur aus Eigensinn, sondern Kunstfreudigkeit gewonnen wurde und der Personenkult sich in der fortwährend satirischen Zurschaustellung des typisch Männlichen und typisch Weiblichen abbildete. Die Historie sah sich Frauen mit Bärten und vergrößerten Genitalien ergeben; oder Männern mit unbehaarten Gesichtern, Brüsten und runden Hüften.
Stattdessen verliert Close in ihrer Vereinnahmung eines womöglich stereotypen Akteurs der Unterschicht ein Gefühl für die Weltlichkeit dieser Rolle und die Spitzfindigkeit, mit der ein realer Nobbs nur durch die Straßen Dublins hätte laufen können. Dokumente solcher sich selbst maskulinisierten Frauen zeigen Draufgänger und Teufelskerle mit unsäglichem Lebensmut und gerade mangelnder Passivität. Doch Close offenbart lediglich: Angst, Wunschdenken und ein Schwinden geistiger Finesse. Eine der wenigen drolligen und leider unangenehm surrealen Sequenzen in „Albert Nobbs“ lässt Nobbs und Page entlang eines Strandes in Kleidern flanieren – Nobbs hechtet fröhlich und befreit umher, wirft sich in den Sand und genießt scheinbar das einstige und nun plötzlich wieder real gewordene Leben als Frau. Allerdings führt die Ausführung zu … nichts. Soll es eine Parabel über Freundschaft und tiefes Verständnis zweier verwandter Seelen sein? Oder doch die schlichte Freude einmal aus dem herrischen Alltag ausgebrochen zu sein? Wiederholt wählt Close einen poetischen Glanz und ignoriert dadurch die eher logische Realität, die aus Lebenserfahrung entsteht und einen tieferen Einblick erlaubt hätte.
Sind Albert Nobbs und Hubert Page Transsexuelle? Sie sind Schöpfungen ihrer Zeit, doch durch den Filter moderner Filmemacher in eine mal glaubwürdige, mal klaustrophobisch graue Welt gedrückt. Diese möchte sich dem bemühten und zunehmend unwirklich apathischen Treiben seines Titelcharakters mit Bedacht nähern und gegen die sanfte Amazone Page in Arbeiterkluft ankämpfen und sie zur Randnotiz degradieren. Trotzdem strahlen in Rodrigo Garcías „Albert Nobbs“ gerade und fast ausschließlich die liebevollen Chaoten abseits des Kerntreibens. Sie rauben jeden Fokus, stehlen einer konstruierten Figur die Basis und lassen Absurdität in den aufgewühlten Straßen Dublins zurück.
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