Kumiko ist ein Dreiviertelmensch: ein Mensch, der sich der Nötigung des sozialen Miteinanders verwehrt und stattdessen die vakuumierte, praktische, isolierte Einsamkeit der Einzimmerwohnung wählt. Jene Menschen, die wie Kumiko denken, suchen keine Weisheiten in Glückskeksen, um sich besser zu fühlen. Auch treffen sie keine Freunde. Und wenn sie doch einmal nicht umhin kommen, diesem abstrusen und für sie ekligen Trieb zu frönen – dann lachen sie nicht über vermeintliche Witze, sondern fliehen, sobald ihr Gegenüber auf die Toilette eilt. Einige Zeitgenossen würden Kumiko wohl asozial nennen. Oder wie der Duden das Wort zu spezifizieren versucht: „unfähig zum Leben in der Gemeinschaft, sich nicht in die Gemeinschaft einfügend, am Rande der Gesellschaft lebend“. Aber diese Kumiko in David Zellners „Kumiko, the Treasure Hunter“ ist nicht nur der Versuch, das Menschsein des Menschen zu stehlen, sondern ebenso der Versuch, das Menschsein des Menschen zu rekreieren. Weil aber alles seinen Preis hat, ist keiner der beiden Versuche umsonst; nicht im monetären, materiellen, nicht im ideellen, abstrakten Sinne. Der Name Kumiko schleicht sich quasi als antithetische Prophezeiung im Stile Ozu Yasujirōs vorweg. Denn das „schöne Kind“ spukt wie ein schneesüchtiger Racheengel von Tokio nach Minnesota, um den Traum des Realismus zu begraben.

Es gilt nämlich das Gebot des Schicksals – und das nicht erst, seitdem die Brüder Joel und Ethan Coen ihr Œuvre mit „Blood Simple“ begonnen haben. Auch hier pflanzen sie über Umwege (und wie viele Male zuvor) eine Idee in den Kopf eines Menschen, der bereits aus dem Diesseits entschwunden ist und nun eine sonderbare, lakonische, exzessive Welt sein eigen nennt. Vermutlich ist es also kein Zufall, dass gerade die junge, naive Kumiko, wunderbar fremdartig verkörpert von Rinko Kikuchi, unter der Brandung eines wütenden Meeres in einer Höhle findet, wonach sie, vielleicht zu diesem Zeitpunkt schon lange, sehnsüchtig begehrt. Es ist „Fargo“. Jenes Fargo in North Dakota, im distinguierten, provinziellen Schneeparadies, am Rande der Vereinigten Staaten, am Rande einer komischen Welt, die zur kosmischen Fügung wird. Aber auch jenes andere und doch gleiche Fargo, wieder in North Dakota, wieder am Rande der Vereinigten Staaten, in dem die Schreie der Menschen über die Grenzen des Bundesstaates hinaus wandern müssten, damit sie jemand zu hören bereit wäre. In letzterem Fargo vergrub Steve Buscemi anno 1996 einen Koffer, in dem genügend Geld für die Erfüllung des amerikanischen Traums stecken dürfte. Und nach diesem Traum giert auch Kumiko, welche den Schatz auf einer grieseligen VHS-Videokassette ausmacht, die sie in der Höhle am Meer wie ein spanischer Konquistador geborgen hat. Es wirkt, als ob „Fargo“ nur auf die Entdeckung der Frau gewartet habe, als ob der Film Nemesis und Fügung zugleich sei.

Was für Kompositionen Sean Porter in seinen Bildern aber auch öffnet: Kumiko, die in einem feuerroten Mantel entlang der Küstenlinie im Sand spaziert und sich später samuraiesk eine ramponierte Tagesdecke als Schutz vor der Kälte North Dakotas um die Schultern legt; Kumiko, die das Magnetband der zerstörten Videokassette in ihre moderne japanische Hocktoilette wirft und ächzend verflüchtigt; Kumiko, die ihren Hasen Bunzo, den einzigen willigen Begleiter ihres Lebens, in einem Park auszusetzen versucht und letztlich unter Tränen in einer U-Bahn Tokios zurücklässt. Alle Einstellungen zeigen eine desolate Sentimentalität, derer David und sein Bruder Nathan Zellner in ihrem Drehbuch mit radikaler Sinnlosigkeit beikommen. Zunächst spielen sie mit ethnografischen Blicken – erst in Japan, dann in Amerika. Der Kern des Märchens, das auf einem wahren urbanen Mythos basiert, purzelt jedoch schon früher aus der knochendürren Erzählung. Nämlich als Kumikos Vorgesetzter, der Heerscharen Office Ladies – Bürodamen für Tee und einfältige Tätigkeiten – spuren lässt, sie irgendwann zu sich bestellt und fragt: „Sind Sie hier unglücklich?“ Als sie verneint, grummelt aus Zellners hypnotischer Neuzeitparabel ein Atem, den bisweilen nur die grandiosen Horrorsyndikate der späten Siebziger auszuspeien bereit waren. Es kommt immer, wie es kommt.

Das Rotkäppchen wird letztlich – auch das ist klar – vom bösen Wolf gefressen. Nur heißt der böse Wolf hier: die Realität. Und nur wer vor dieser fliehen möchte, wird erkennen, dass Kumiko kein stumpfes, sonderbares Bienchen ist, welches Hilfe sucht. Sondern der letzte, obwohl schwerfällige, lähmende Buckel, der bei aller Entrückung wunderbar entschleunigtes Kino fabriziert. Denn die Träumer dieser Welt sind noch immer die letzten Eroberer des Neuen.

Meinungen

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