Im Herbst darf man wieder zur Besinnung kommen; Herz und Hirn anwärmen, um der baldigen Kälte entgegenzukommen. Nach der Herrschaft der Sonne kommt man nun aus dem Grellen und sieht voller Klarheit das Reelle oder auch den Zugang zum Kreativen, welche sich zuvor gereizten Sinnen sowie äußeren Umständen ausgeliefert sahen. Emotionale Pulverfässer scheinen von fallenden Laubblättern besänftigt zu werden, und ohnehin lässt sich im Innern der Wandel zur nächsten Jahreszeit spüren, als hätte die Seele gleichsam ihr Thermometer zur Sehnsucht hochgeschraubt. Vielleicht liegt es daran, dass das Schöne und das Hässliche wieder ihre wahre Erscheinung erhalten, je kahler die Bäume werden. Vergänglichkeit ist das Stichwort, das sich am Beispiel der Natur in Erinnerung ruft, als Zyklus ergreift und wie ein Schalter umstimmt. Gewiss nicht unbedingt zum Negativen, aber stellvertretend als Gnadenlosigkeit der Zeit fungierend. So kann man schnell unten landen, um doch wieder nach oben zu gelangen – der Mensch und seine Umwelt üben sich in wechselwirkender Unberechenbarkeit.

Die Filme im Oktober

Unsere geliebte Leinwand reflektiert solche Gefühlswelten gerne – und so wollen wir auch auf fünf nach Kinostart sortierte Filmempfehlungen blicken, die sich der Komplexität des menschlichen Geistes hingeben. Ganz gleich, ob nun die Visualisierung des Unterbewusstseins ausgerechnet im Herzen ankommt, Gerechtigkeit das Schweigen im Zwischenmenschlichen zu brechen gedenkt oder auch gegen die finstere Masse der Gewalt ankämpft, der Optimismus den Weg zu fremden Planeten und zurück weist: Diese Filme fördern weniger Entlastung als Verständnis. Verständnis zu einem Zeitpunkt, an dem das Ungewisse zwischen den Zellen und Zeilen liest, Mühsames an die Türe klopft und vom Menschen hingenommen wird, um einen Plan zur weiteren Existenz innehalten zu können. Klingt dramatisch, muss es aber nicht sein. Der Herbst ist ein wiederholter Prozess, und in jeder Wiederholung bietet sich Platz für Neues. Folgende Werke des Zelluloids inspirieren daher mit bisher recht unvorstellbaren Variationen.

Alles steht Kopf

Kinostart: 1. Oktober. Regie: Pete Doctor und Ronaldo del Carmen.

Szene aus „Alles steht Kopf“ © The Walt Disney Company Germany GmbH

Szene aus „Alles steht Kopf“ © The Walt Disney Company Germany GmbH

Es gibt dropsförmige, türkisfarbene Merkarbeiter mit Schutzbrille und Bauarbeiterhelm, ein Einhorn mit Regenbogenmähne und Starattitüde, Pommes frites, die wie Unkraut in Fantasieland sprießen, zwischen Cloudtown, Brettspielen und Easter Eggs. Diese Welt sieht aus wie ein Grimm’sches Tohuwabohu, in das sich Referenzen an Alfred Hitchcock, Hayao Miyazaki, Salvador Dalí, Joan Miró und Walt Disney pressen; ein immerzu explodierendes Karussell der Genialität, das sich schwerlich in Worten ausdrücken lässt. Weil die Regisseure mit ihren kleinen, zarten, menschlichen Makeln, die sich um ihr Werk ranken, zeigen, dass Film noch immer die Kraft besitzt, selbst ein komplexes, klandestines System visualisieren zu können. „Alles steht Kopf“ wagt ohne Klamauk und mit hinreißender Sentimentalität frei nach Goethe zu sagen: Hier darf ich träumen, hier darf ich noch sein. Vor allem aber gibt er zu verstehen, dass Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel, und damit alle Emotionen, uns zwingen, vorwärtszugehen und einen Teil von uns zurückzulassen. Es ist kein filmisches Meisterwerk. Sondern ein Film, den wir in unserer Erinnerung, mit ihren Additionen und Subtraktionen, zum Meisterwerk küren können.

The Look of Silence

Kinostart: 1. Oktober. Regie: Joshua Oppenheimer.

Szene aus „The Look of Silence“ © Koch Media/Neue Visionen

Szene aus „The Look of Silence“ © Koch Media/Neue Visionen

Es stellt sich unausweichlich die Frage, warum Joshua Oppenheimer mit „The Look of Silence“ nochmals in jenes Sujet dringt, das er in „The Act of Killing“ behandelt hat – nun jedoch aus der Perspektive der Opfer jener Morde an Kommunisten zwischen 1965 und 1966, welche von der indonesischen Regierung und Armee angeordnet wurden. Schnell wird jedoch klar, dass jene Fragen in Indonesien von höchster Not sind. Es herrscht ein Schweigen, an dem das soziale Verhältnis dort seit Jahrzehnten scheitert und selbst innerhalb von Familien der Wahrheit entgeht. Stattdessen hoffen sie darauf, dass Gott im Nachhinein die Schuldigen bestraft. Solange sollte Stille herrschen. Denn wer aufmuckt, bekommt Ärger. Die einzige Verteidigung dagegen bleibt selbst für die Unterdrückten nur der Zugriff auf Gewalt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Eine verstörende Selbstverständlichkeit im gestörten Zusammenleben auf beiden Seiten. Oppenheimers Inszenierung in „The Look of Silence“ wandert daher im Gegensatz zum Vorgänger entlang entschiedener Stille und fordert eine konkretere Erzählweise. Denn wie kann dem Schrecken, allein in seiner nacherzählten Form, auch anders entgegengekommen werden als mit Sprachlosigkeit?

Sicario

Kinostart: 1. Oktober. Regie: Denis Villeneuve.

Szene aus „Sicario“ © STUDIOCANAL GmbH Filmverleih

Szene aus „Sicario“ © STUDIOCANAL GmbH Filmverleih

Denis Villeneuve bewies jüngst mit „Prisoners“, wie viel Druck er aus den Konventionen eines Genres pressen und dem Zuschauer als filmische Grenzerfahrung vermitteln kann. Jene Tradition führt er auch in „Sicario“ fort – einem Thriller voll oft gesehener und doch neuartiger Situationen, die ihr furchterregendes Potenzial aus dem hochaktuellen Zeitgeist speisen. Der Film gelangt folgerichtig in einen Abgrund des beidseitigen Verbrechens, in dem Infrarotkameras noch weniger Sicherheit geben, je mehr Blut sich auf der Linse sammelt. Dort steigt der meisterhaft inszenierte Druck, aber auch der Hang zur ideologischen Offenbarung. Andere Filmemacher bewegen sich in solchen Fällen auf Messers Schneide – Villeneuve gelingt galant die Kurve. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass diese Kurve zu einem Genrefilm führt, der trotz seiner betroffenen wie herausfordernden Weltsicht mit teils einfachen Leitbildern arbeitet. Als konzentriertes Stimmungswerk könnte dies die Krönung des Minimalismus sein, der hier freiwillig in die Schlaglöcher einer etwas redundanten Charakterzeichnung gerät. Es gilt, geduldig durchzuatmen, bevor der nächste Abstieg in den allzu menschlichen Terror passiert.

Der Marsianer

Kinostart: 8. Oktober. Regie: Ridley Scott.

Szene aus „Der Marsianer“ © Twentieth Century Fox of Germany GmbH

Szene aus „Der Marsianer“ © Twentieth Century Fox of Germany GmbH

Klebeband und Kunststofffolie, das sind die Ingredienzien einer renaissancistischen Science-Fiction, die zur Wissenschaft zurückkehrt. Eine bedeutendere Rückkehr aber wagt Regisseur Ridley Scott, da er jene Werkzeuge als Fundament seines neuen Films begreift. Die Überraschung an „Der Marsianer“, nach dem gleichnamigem Bestsellerroman von Andy Weir, allerdings ist, wie viel Spaß und Entdeckungswahn sich die Geschichte um einen Astronauten und Botaniker erlaubt, der allein auf dem Mars strandet, nachdem seine Kameraden ihn für tot glaubten und ihre Heimreise zur Erde antraten. Über fast zweieinhalb Stunden zeigt jener Marsianer, Mark Watney, dass alles möglich ist. Angus MacGyver meets Robinson Crusoe, in einer Space Opera, welche Poesie nicht in der offensichtlichen Sensation, in Explosionen und Außerirdischen findet, sondern in der Theorie, in Zahlen und Formeln. Ridley Scott traut sich, in der Atmosphäre zu segeln und den Actionserenaden vergangener Tage abzuschwören. Sein Film ist ein einziger Vibe ohne Schluckauf, hermetisch isoliert von Größenwahn.

The Tribe

Kinostart: 29. Oktober. Regie: Miroslav Slaboshpitsky.

Szene aus „The Tribe“ © Rapid Eye Movies HE GmbH

Szene aus „The Tribe“ © Rapid Eye Movies HE GmbH

Der Blick von „The Tribe“ in das Leben gehörloser Schüler ist dabei unentwegt ein trister, unangenehmer und brutaler. Jede im Film vorkommende Szene wurde in einem Stück gefilmt, wobei die Kamera ein ruheloser Begleiter ist – ein stiller Voyeur. Dadurch fühlt man sich schnell als Mittäter. Das Geschehen ist nur einen Handgriff entfernt, aber die Kamera schreitet nicht ein: Sie filmt den Strudel aus Sex und Gewalt kommentarlos in teilweise quälend langen, aber zugleich intensiven und faszinierenden Einstellungen, die Miroslav Slaboshpitsky ausnahmslos mit gehörlosen Laiendarstellern filmte. Als klar wird, dass es kein Entrinnen, keine Hoffnung gibt, tun sich Abgründe auf, obwohl dieser ukrainische Film trotz der Tristesse so gut wie nie aufgesetzt oder gewollt provokant inszeniert wirkt. Die schmale Grandwanderung ist sogar ein voller Erfolg, welcher beim Festival de Cannes zurecht mehrfach ausgezeichnet wurde. Gewarnt sei man dennoch: Wer sich in der stillen Gewalt von „The Tribe“ verliert, geht das Risiko ein, danach schockiert und sprachlos den Kinosaal zu verlassen.

Weitere Starts im Oktober

Ebenso in den hiesigen Lichtspielhäusern laufen an: „Max“, „Regression“ und „Der Staat gegen Fritz Bauer“ am 1. Oktober; „Horse Money“, „Pan“ und „The Program – Um jeden Preis“ am 8.; „American Ultra“, „Black Mass“, „Crimson Peak“, „Familienfest“ und „Picknick mit Bären“ am 15. Oktober; „The Last Witch Hunter“, „A Perfect Day“ und „The Walk“ am 22. sowie „Macbeth“ und „Stung“ am 29. Oktober.

Für alle, die sich ihre Hintern lieber oder vorrangig auf der heimischen Couch platt drücken, gibt es: „Zu Ende ist alles erst am Schluss“ ab 2., „The Voices“ ab 6. Oktober, „A World Beyond“, „Der Nanny“, „Lost River“, „Spring“, „Spy – Susan Cooper Undercover“, „Tinkerbell und die Legende vom Nimmerbiest“ ab 8., „Tracers“ ab 9., „Cop Car“, „Every Thing Will Be Fine“, „Love & Mercy“ und „Miss Bodyguard“ ab 15., „Alleluia“, „The Last Five Years“ ab 16., „Elser“, „Ich seh, Ich seh“, „Jurassic World“, „Kiss the Cook“, „Manolo und das Buch des Lebens“ und „Mara und der Feuerbringer“ ab 22., „Trash“ ab 29. sowie „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ und „Frank“ ab 30. Oktober.

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Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

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Kinostart: 27.07.2017

Django

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Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

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Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

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