Es pochen die Impulse, die Sinne gehen ein und aus; der Blick ist ungeschärft, die Sprache am Rande des Notwendigsten. Stina Werenfels geht von Anfang an auf Tuchfühlung mit der Lebensperspektive ihrer Protagonistin und lässt ebenso einen neuen Blick auf das kontemporäre deutschsprachige Kino zu. In „Dora – Oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ versteckt sich nämlich etwas echt Aufregendes und zeigt sich uns nach und nach ab jenen einleitenden Eindrücken. Was zuerst wie die Sicht eines Neugeborenen erscheint – und scheinbar genauso von den einwirkenden Gesichtern und Stimmen behandelt wird –, ist bereits ein Hort der Hormone, welche sich endlich freigesetzt wissen wollen. Sie befinden sich in der jüngst Achtzehn gewordenen und geistig behinderten Dora (Victoria Schulz), deren Kindlichkeit durch den Entschluss ihrer Mutter Kristin (Jenny Schily), allerlei Medikamente und Pillen abzusetzen, nun Jugend und Weiblichkeit weichen muss – zumindest im körperlichen Sinne.
Dieser Entschluss bringt allmählich eine neue Unabhängigkeit mit sich, die zwar nichts an Doras Abwegigkeit ändert (was sich ihre Eltern am ehesten erhofft hatten), allerdings eine gesteigerte Sinnlichkeit zum Äußeren und Inneren, speziell zum Sexuellen verursacht. Jene Gefühlswelten weiß Werenfels aufreizend zu visualisieren und stellt zusammen mit der freimütigen Sprache Doras einen Kontrast zu den biederen Vorsichtsmahnungen und Diskussionskonstrukten der Eltern auf, die ihre Tochter seit jeher als Sorgenkind halten. Insbesondere Mutter Kristin operiert dabei allerdings mit zweierlei Maß: Einerseits will diese schon seit Längerem die Zeugung eines zweiten Kindes vorantreiben, um eine entlastende Normalität zu erreichen; andererseits baut sie eine Kontroll- und Eifersucht in sich auf, sobald die Ekstase ihrer Tochter anstatt ihrer eigenen aufschlägt, und setzt daher aus Verzweiflung den Freiheitsentzug um.
Bizarre Variationen der Mutterliebe, doch nicht derart vorwurfsvoll in Szene gesetzt, wie man vermuten könnte. Dora erfasst die Situation von Natur aus nicht mit Argwohn, sondern sucht wie der Film die Faszination im Trieb aufkeimender Erotik – selbst jene zum wildfremden Peter (Lars Eidinger). Der nimmt nach kurzer Skepsis gerne die Unschuld Doras an und schwängert sie; die Mutter geht sofort von einer Vergewaltigung aus. An Dora ziehen diese Sorgen schlicht vorbei; sie trifft sich weiterhin mit Peter. Da genießt sie eine Sexualität, die ebenso schamlos und naturalistisch in der Inszenierung dargelegt wird, während sich die entschlossene Ungeniertheit fernab des Elternhauses mit Kung-Fu-Tritten im Wald zu „Verschwende deine Jugend“ von DAF vollzieht.
Kristin äußert lautstark ihre Zweifel, dass Dora Mutter und Peter Vater sein können. Objektiv gesehen geht die Rechnung auch nicht auf – doch von einer Unmöglichkeit dürfte kaum die Rede sein. Kristins Misstrauen mündet jedoch in Hass; die potenzielle Urigkeit des Films in extreme und doch nachvollziehbare Seelenpein. Es wird dabei nicht zurückgehalten oder verblümt, aber auch nicht auf Exploitation und Schocks verschoben. (Mutter-)Liebe und Abhängigkeit stören sich schlicht am gemeinsamen Fluss, verletzen und missverstehen sich, da man das potenzielle Glück nicht miteinander teilen mag. Die Perspektiven sind einfach andere – die eine traut der anderen nichts zu, obwohl beide jeweils Stärken und Schwächen besitzen.
Regisseurin Werenfels findet selbst in der Trennung wortlos Gemeinsamkeiten; verschärft die individuellen Leiden, modelliert aber auch beiderseits den notwendigen Blick zur (Un-)schärfe. Darin findet sie durchaus einen puren cineastischen Rausch, wie man ihn selten sieht – eben weil er die Oberfläche des Etablierten und Vorzeigbaren wegschwemmt und ins Innere und Sinnliche kehrt. Anregend, aufregend und abregend zugleich: Doras sowie Kristins verspätetes und doch intensives Coming-of-Age kennt kein Pardon, aber immer noch Empathie. Lust sowieso. Es wird sich beleidigt, geschlagen und vergeben, so zielsicher und doch ungemütlich, wie es derzeitig vielleicht noch Katrin Gebbe („Tore Tanzt“) zu verknüpfen weiß. Die weiblichen Perspektiven: immer einen Blick wert.
Meinungen
Teile uns deine Meinung zu „Dora – Oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.