Gewiss wohnt Katrin Gebbes Debüt „Tore tanzt“ ein Rhythmus inne, welcher nicht nur aus dem permanent unendlich fern wirkenden Trommeln des Schlagzeugs drängt, sondern der ungezügelten Struktur des Protagonisten Sinnsuche, -findung und -ablösung. Zunächst tauchen sie ihn, Tore (Julius Feldmeier), unter Wasser, er taucht neu geboren wieder auf. Eine Taufe, sein Shirt klebt ihm an den hageren Schultern, eine Tätowierung schimmert hindurch: „Teach Me, Lord.“ Lehren wird er ihn, dieser Gott, dem Tore bedingungslose Liebe schenkt. Die Kamera von Moritz Schultheiss baumelt noch ruhelos auf Tores ausgestreckten Armen, die nicht von ungefähr eine Geste des ans Kreuz Geschlagenen formen und später wahr werden, als eine Abblende zunächst nur das mittlere „T“ des Titels in den Vordergrund rückt. „T“ wie toxisch, aber auch: „T“ wie der Tor. Welch Gift Tore infolge schlucken muss, kann er in dem Moment des Prologs kaum ahnen, doch er spuckt bald nicht nur sprichwörtlich Galle. „Was können mir die Menschen schon tun?“, fragt er noch …

Ein Wunder auf der Autobahnraststätte später eint Gott und Teufel, Tore und Benno (Sascha Alexander Geršak), dessen Auto nicht mehr anspringen will. Daher bilden Tore und Eule (Daniel Martin), beide „Jesus Freaks“ – plastisch gesprochen: Punker und Anarchos mit Jesus im Herzen –, einen Energiekreis und bitten um göttlichen Beistand. Ungläubiges Zucken bei Benno, doch der Wagen wiehert und schnurrt kurz darauf wieder. Einige Szenen danach frühstückt Tore schon bei dessen Familie, es scheint die sehnliche Erfüllung eines Lebens in obdachloser Unruhe. Einem eindeutigen Zündfunken für das unheilvolle Kommende mangelt es „Tore tanzt“ sodann, denn die Zündung geschah bereits an dem einen Nachmittag des Kennenlernens auf der Raststätte. Tore erkor Benno ebenso aus wie Benno Tore auserkor; ihr Verhältnis sogar fordert Ambivalenz, es ist nichts Geringeres als die Konfrontation des Weltlichen mit dem Göttlichen auf einer fortwährend sadistisch gezeichneten Ebene des Grundunverstehens. Ein Schlag ins Gesicht, eine Holzpalette, die auf Finger prallt, ein vergorenes Hühnchen, Misshandlung – des Horrors Schluss liegt auf Erden noch immer in rein physischer Gewalt. Vielleicht hätte Tore der psychischen sogar trotzen können.

Ohnehin etabliert „Tore tanzt“ seine Symbolik früh mittels raffinierter Subtilität. Da prangt auf Bennos Rücken nicht umsonst die okkulte Götzenfigur Baphomet (kurz darauf zeigt er sogar die mano cornuto, die gehörnte Hand), nicht umsonst wächst aus den drei Kapiteltiteln „Glaube“, „Liebe“ und „Hoffnung“ eine darin antithetische (und ganz Ulrich Seidl folgende) Warnung wie auch die Dreieinigkeit selbst, die bei Gebbe gleichwohl Lüge und Wahrheit definiert. Entgegen des populären Wahns Protagonist und Antagonist just für jedwede Interpretation in Eindeutigkeit zu ertränken, konfrontiert „Tore tanzt“ den aus Dostojewskis „Der Idiot“ entliehenen Fürst Myschkin und hier Tore benannten „Helden“ erneut mit dem fürchterlichen Urbösen. So überraschend Tores irreversible Peinigung durch Satan höchstselbst wirkt, sie basiert auf Spott und Unvernunft, aber auch aus der Unmittelbarkeit Tores heraus, er könne seine „Feinde lieben und für sie beten“ – das Böse zum Guten wandeln. Zudem raubt Gebbe ihrem Tor(e) seine Vorgeschichte, sie stellt ihn uns vor als naives Kind, als leicht zurückgebliebenen Mann, wie den „Idioten“ und Dostojewski selbst als Epileptiker, worin Tore die Berührung mit dem Heiligen Geist vermutet. Ein Unschuldslamm mag er vielleicht sein, aber warum Benno ihn als Spielzeug und Sklaven missbraucht, skizziert Gebbe niemals augenfällig und doch niemals völlig kryptisch.

Zwar basiert „Tore tanzt“ auf einer wahren Begebenheit, Gebbes Ansatz jedoch fremdelt mit der Spezifität dessen, weil ihre Erzählung zunehmend ein universelles Echo auf Altertum und Modernität wirft. Ihre Frage nach dem wahrhaft Guten löst sie bis zur Kompromisslosigkeit ab und lässt sie letztlich zu der Frage reifen, ob das Gute und das Böse nicht grundsätzlich ein und dasselbe sind, und beides gleichsam unbequem über eine Welt richtet, welche in jedem von uns Schattierungen dieses Guten und Bösen zulässt. Einmal tanzt Tore sogar in wilden, ungelenken Bewegungen mit einer gar außerweltlichen Gelassenheit, er wirbelt die Arme und ist ganz bei sich. Für Tore wird es kein gutes Ende nehmen, aber ein Ende nimmt es, das ganz gewiss. Zugeben möchten wir es nach „Tore tanzt“ und dieser unumstößlich widerlichen Erfahrung zwar nicht, aber: Bitte verstören Sie uns weiter, Frau Gebbe! Eine äußerst bittere Pille von Film.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Tore tanzt“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.