Zuerst ist nichts, dann ist Freude. Ein gelber Wonneproppen mit blauem Pixie und grünem Etuikleid. Ein einsamer, milchiger Knopf, der Lachen schenkt. Eine goldene Kugel, die sich über Drähte, Spulen und Kurven in das Gedächtnis brennt. Nach Freude kommt Kummer, nach Kummer kommt Angst, Wut, Ekel. Aber vor allem kommen wir nach Hause; in eine Welt, auf deren Schulter wir durch den Tag reiten – und durch die Nacht. Wo wir Bauklötze stapeln, mit einer Ratte frühstücken, auf Ameisengröße schrumpfen, unter Clownfischen tauchen. Und was es nicht jedes Mal für ein Abenteuer ist, nach Hause zu kommen! Denn nach Hause kommen, heißt Pixar sehen: Niemals erwachsen werden, immer Kind bleiben. Doch selbst wenn wir Kind bleiben, brauchen wir hie und da eine frische Konsole, ein Modul mit größerem Funktionsumfang, neuen Tasten, Hebeln, Reglern. Oder auch: ein weiteres Abenteuer. Wie Pete Doctors und Ronnie del Carmens „Alles steht Kopf“ – die Reise in den Kopf eines elfjährigen Mädchens, das nach einem Umzug von Minnesota (Eishockey!) nach San Francisco (Pizza mit Brokkoli!) nicht weiß, wo sein Platz ist. Keine quiekenden Außerirdischen, die sich nach einer Kralle sehnen; keine Superhelden, die dick werden, altern, mit ihrer Midlife-Crisis hadern. Stattdessen ein Kind, das erwachsen wird. Es ist diese Idee, simpel wie klug, die uns lehrt, dass eine Revolution immer im Alltäglichen beginnt.
Aber natürlich beginnt sie auch in jenem Kopf, neben Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel, einem Kontrollzentrum und etlichen gläsernen Kugeln, in denen die Erinnerungen des Tages ruhen; bunt wie das Leben selbst. Ein Herz existiert nicht – und doch sehr wohl. Obgleich Doctor und del Carmen jenes Organ aussparen, und als Lieferanten zwischenmenschlicher Emotionen scheinbar nicht wertschätzen, ist es nicht passé, sondern nur seines Ortes beraubt. Das Herz wohnt überall in „Alles steht Kopf“: in jeder Emotion, in jeder Insel, in jedem Gedankengang (wortwörtlich ein Train of Thought), in jeder Inszenierung der Traumfabrik, in jedem Stadium des abstrakten Denkens, in jeder Knospe des Langzeitgedächtnisses, in jeder Spirale der Doppelhelixtreppe, die sich um Erinnerungen windet, als wären sie Bücherregale, in jeder Erinnerung, sei sie noch so sehr verblasst. Es gibt dropsförmige, türkisfarbene Merkarbeiter mit Schutzbrille und Bauarbeiterhelm, ein Einhorn mit Regenbogenmähne und Starattitüde, Pommes frites, die wie Unkraut in Fantasieland sprießen, zwischen Cloudtown, Brettspielen und Easter Eggs. Diese Welt sieht aus wie ein Grimm’sches Tohuwabohu, in das sich Referenzen an Alfred Hitchcock, Hayao Miyazaki, Salvador Dalí, Joan Miró und Walt Disney pressen; ein immerzu explodierendes Karussell der Genialität, das sich schwerlich in Worten ausdrücken lässt. Weil die Regisseure mit ihren kleinen, zarten, menschlichen Makeln, die sich um ihr Werk ranken, zeigen, dass Film noch immer die Kraft besitzt, selbst ein komplexes, klandestines System visualisieren zu können.
Ein vergessener imaginärer Freund namens Bing Bong spielt jedoch letztlich der Dramaturgie und den existenziellen Sorgen unseres präpubertären Mädchens einen Streich, indem er – egozentrisch, wie ein imaginärer Freund ist, mit dem zuletzt vor Jahren musiziert wurde – das Kabinett der Ideen nutzt, um sich selbst wie eine Bowlingkugel in Erinnerung zu rufen. Also spukt plötzlich neben Freude und Kummer, die sich nach einem Malheur den Weg zurück ins Hauptquartier bahnen, ein pinker Hybrid zwischen Elefant, Katze und Delfin herum, der Bonbons weint und mit einem Torso aus Zuckerwatte und einer Blumenbrosche am Revers durch die Welt spaziert. Und genau dort verlieren Doctor und del Carmen ihre Hemmungen und perfektionistischen Ansprüche, die sich manchmal trauen, über den Thematiken des Films zu thronen und ein wenig mehr Unheil zu stiften, als förderlich ist. Die große, wunderschöne Aussage dieses Films allerdings können sie niemals unterbuttern: Dass wir im Prozess des Erwachsenwerdens vergessen, was wir als Kinder geliebt und später als graue Kugeln in einer tiefen Deponie beerdigt haben. „Alles steht Kopf“ wagt ohne Klamauk und mit hinreißender Sentimentalität frei nach Goethe zu sagen: Hier darf ich träumen, hier darf ich noch sein. Vor allem aber gibt er zu verstehen, dass Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel, und damit alle Emotionen, uns zwingen, vorwärtszugehen und einen Teil von uns zurückzulassen.
Es ist kein filmisches Meisterwerk. Sondern ein Film, den wir in unserer Erinnerung, mit ihren Additionen und Subtraktionen, zum Meisterwerk küren können. Und was es nicht für ein Wunder ist, hinter die Fassade eines Menschen und in sein Hauptquartier zu spähen, wo sich fünf Emotionen am Rande des Nervenzusammenbruchs balgen! Die Kinder in uns werden niemals sterben. Und das ist gut so. Denn sie werden uns, um es mit Bing Bongs Worten zu sagen, zum Mond bringen – und vielleicht, wenn wir Glück haben, nie wieder zurück.
Meinungen
Teile uns deine Meinung zu „Alles steht Kopf“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.
Bisherige Meinungen
Einer der wunderbarsten Filme der letzten Jahre. Pixar ist zurück. So was von. ♥