Wenn es Schnecken der Gattung Ariolimax columbianus nach der Kopulation nicht möglich ist, ihr Genital zurückzuziehen, beißt ein Geschlechtspartner dem anderen den Penis ab – oder verstümmelt sich selbst. Nun finden sich in „Ich seh, Ich seh“ zwar weder Schnecken noch Genitalien wieder, doch ein Unheil, das besser ungesehen bliebe, das findet sich sehr wohl. Und dieses Unheil lässt tief blicken über den Zustand der Wohlstandsgesellschaft. So tief, dass es schmerzt, schüttelt und an den Eingeweiden nagt. Denn spätestens seit Michael Hanekes „Funny Games“ ist es um das vermeintliche Idyll auf dem Lande schlecht bestellt. Wo dort anno 1997 und 2007 zwei adrette Halbwüchsige mit weißen Handschuhen einen Palast des Schreckens auf der Natur bauten, hausen hier drei Menschen, die sich am gegenseitigen Leid laben, bis auch dem letzten klar ist, dass der Teufel unter ihnen und ihren Traumata weilt. Gut ausgehen, das konnten sie freilich noch nie, diese österreichischen Filme mit ihrem Hang zum Fatalismus, welche Identität und Existenz als Konstrukte strafen, die es zu hinterfragen gilt.

Für die zehnjährigen Lukas und Elias (Lukas und Elias Schwarz) stellt sich in Veronika Franz’ und Severin Fialas Spielfilmdebüt die Frage, ob die kürzlich ins Feriendomizil zurückgekehrte Frau (Susanne Wuest) tatsächlich ihre Mutter ist. Denn was sich als Gesicht unter Mullbinden regt, agiert gänzlich konträr zur fürsorglichen Dame, die den eineiigen Zwillingen vor ihrer Reise zum Schönheitschirurgen einen Gutenachtgruß auf Kassette hinterlassen hat. Nun täuscht sie Schlaf vor, wenn es ihr nach einem Mahl dürstet, und geht den Buben an die Kehle, wenn sie sich wider Zucht und Ordnung sträuben. Wenigstens um Speis und Trank müssen sie sich nicht sorgen: Der Bofrostmann liefert mit masochistischer Kalkulation Gefrierprodukte, die niemand bestellt zu haben scheint. So also straucheln Lukas und Elias, zweifeln, winden sich um Zuneigung, den Hauch einer liebenden Geste, einer Umarmung. Als diese ausbleibt, gehen sie auf die Barrikaden. Dann fließt Blut. Erst in ihren Träumen, später in der Realität. Wie bei Ulrich Seidl wabern absurde bis groteske Elemente aber aus der trotzigen Verzweiflung der Brüder, die sich um ihr holdes Familienglück betrogen fühlen und es mit Haut, Haar und properen Schaben zu verteidigen suchen. Am Schluss bleibt keine Zuflucht mehr – nur ein Tabu, dessen Spuren sich in einem feurigen Ascheregen annullieren. Nichts wird wieder gut.

Ohnehin wütet eine tobsüchtige Spirale der Perversionen in Franz’ und Fialas psychotischem Horrormanifest, das zugleich einen neuen Ast des Seidl’schen Familienstammbaums öffnet. Nicht nur hat der Komponist der authentischen Vulgärästhetik den Film produziert, sondern damit auch direkt seine Frau und seinen Neffen unterstützt, die nach der dokumentarischen Dekonstruktion des Regisseurs und Schauspielers Peter Kern in „Kern“ erneut kollaborieren. Daher wundert kaum, was hier aus dem Unterholz wuchert und wie aus einem diabolischen Märchen Grimm’scher Tage ins Zelluloid stürzt: tote Katzen und resistente Kakerlaken im Aquarium, illusorische Männer und diffuse Frauen an der Wand. Allein der hybride Landhausstil lässt erahnen, dass die äußere und die innere Welt hermetisch voneinander abgeschlossen sind. Während in der Natur Maisfelder, Wälder, Seen und steinerne Irrwege dominieren, dienen im sterilen Sommerheim einzig zwei grün und rot beschmierte Teufelsmasken aus Pappmaschee als Kostüm. Aber der letzte Ort des Schutzes ist passé – nicht erst, wenn Käfer in einer launigen Referenz an David Cronenbergs Körperhorror aus dem Bauch der Mutter purzeln. Aus Liebe bricht Hass.

Die Wucht an zweifellosen Reminiszenzen kommuniziert durch Bild und Ton, visualisiert, verbalisiert, reklamiert. In einer frühen Einstellung entwurzelt sich die Orientierung allerdings bereits weit genug, dass die Jungen über einen Almboden mit Schrumpfrissen rennen, der unter ihnen wie ein Wackelpudding nachgibt. Eben solche Orientierungslosigkeit fahren Franz und Fiala im Bewusstsein auf, dass ihr Film keineswegs unterhalten muss, aber im Zweifelsfall kann – wenn der Zuschauer sich der sadistischen Akupunktur vollends bewusst wird und nicht dagegen sträubt. Denn „Ich seh, Ich seh“ serviert ohne Arroganz und Eitelkeit, was passiert, wenn das Schlaflied der Familie von Trapp endet, ihr Strahlen ausläuft, die Inszenierung hakt und die Nadel vom Plattenspieler kippt: das Kino im Kopf. Und dieses Kino weiß, dass es seinen Beobachter aus größter kindlicher Naivität mit einer Saugglocke penetriert, bis aus der anfänglichen Irritation höllische Fantasie geworden ist. Vielleicht unangenehm, doch wohlfeil sardonisch. Selbst Jesus staunt an seinem Kreuz über all die Obszönität mit einem Zwinkern.

Christian Morgenstern schrieb einmal ein Gedicht mit dem Titel „Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst“, in dem sich eine Schnecke fragte: „Soll i aus meim Hause raus?“ Wenn es nach Veronika Franz und Severin Fiala ginge, dürfte die Antwort lauten: besser nicht. Denn wer weiß, welches Unheil draußen lauert. Oder welche Bestie von Film.

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