Martin Scorsese, geschätzter Wiederentdecker und -verwerter des in die Breite treibenden, über Gebühr verschwenderischen Hollywoodkinos, sprach von einem Epos in einer Tradition, an die sich heute niemand mehr heranwage. „The Cut“ vereinheitlicht Fatih Akins lebensgeistige Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“. Nach „Gegen die Wand“ (2004) und „Auf der anderen Seite“ (2007) metaphorisiert Akin zuletzt den Teufel in einer sanften Erzählung, der sich vor der historisch heiklen Wechselbeziehung des armenischen Genozids in dessen Opfern wie Tätern verdeckt hält, in dessen Fortentwicklungen wie Verschwiegenheiten. Daneben beschreibt Akin eine kontinentale, humanistische und spiritistische Abenteuergeschichte eines stummen Kriegsüberlebenden (Tahar Rahim), der durch eine Tat der Barmherzigkeit den Wirren der Gewalt entkommt, um seine zwei über den Globus verstreuten Töchter aufzusuchen, Hoffnungsstation für Hoffnungsstation, Fremdurlaub für Fremdurlaub. Scorsese hat Recht. Akin gelang ein lyrisches Filmgedicht retrospektiven Charakters, meditativ, materiell, motivisch. Vor nicht allzu langer Zeit erschien Stephen Frears’ verwandter, allenfalls mikrokosmischer Elternteil-sucht-Kind-BeitragPhilomena“. Beide öffnen sich einer rührenden Schönheit, überfallen sowohl das Herz als auch die Nieren. „The Cut“ ist im Verhältnis jedoch vielmehr haptisch denn gedanklich nachzuempfinden. „Der Zuschauer soll die Welt, die wir ihm eröffnen, verstehen, begreifen und in sie eintauchen“, wie Akin anmerkte.

Die jahrelange Wegstrecke, die Nazaret Manoogian (Rahim) durchquert, führt ihn über eine unausgewogene Vegetation, von Wüste zu Schnee, vom Abgelegenen zum Eingeengten, vom Lebensfeindlichen zum Bevölkerungsdichten, wohingegen er von Mesopotamien nach Amerika heiße, schwüle, kalte, bitterkalte Zustände erleidet. „The Cut“ findet zu keinem Stillstand, sondern blickt sich andauernd um; orientierungslos, blind, verschwitzt atmend, in der Ferne vage eintauchend, dort ein Zeichen von Zivilisation, da etwas Konkretes, das illusorisch ist am Horizont. Der titelgebende „Cut“, ein Schnitt in den Hals, der die Stimmbänder des Protagonisten verletzt – von ihm, dem Schnitt, der geraden Linie ist es nicht weit zu einer in den Sand geklemmten Zugschiene, die, parallel zu Nazaret, als eine Art navigatorische Rettungs- und Führungsleine über die Besiedlung wilder, kochender Kulturen in die Ewigkeit leitet: Im expressivsten Bild liegt Nazaret abgekämpft auf den Schienen, nachts, im Inneren der Schwärze. Fatih Akin hatte Interesse an einem physischen, kunstgewerblich entbundenen Film, aber „The Cut“ geht über die Physis des Hauptdarstellers hinaus, über das entkräftete Pressen der Worte und das hastige Strampeln der Arme und Beine. Die illustrative Landschaftsmalerei, im Cinemascope-Verfahren auf 35-mm-Film überwältigend fotografiert, erschafft eine existenzialistische Dürre, die in Verbindung mit ruhenden Perspektiven und fortdauernden Schwenks einen von seiner Zeit eingeholten (Spät-)Western reanimiert.

Ungeachtet seines hochpolitischen Unterbaus bewirbt Akin keine kontroverse Ideologie. Er hält ausdrücklich am klassisch assoziierenden, strukturell grobgliedrigen Zwischenstoppfilm fest, der eine Kolonne an altertümlichen Such- und Findklischees abgrast. Hierzu passen halluzinatorische Erscheinungen jener, die gefunden werden wollen und unsere müde Hauptfigur weiter antreiben, sich unvorbereitet ergebene Aussichten und edelmütige, zartfühlende, überbordend dienstwillige Menschen, die eine Weiterreise erst ermöglichen, indem sie die Kraft ihrer unerwarteten Begegnung aufstocken. Was nicht heißen soll, dass „The Cut“ zimperlich wäre, Kriegsresultate zu beschönigen, aber Gewalt neigt bei Akin nicht zum Voyeurismus. Die unprätentiöse Inszenierung des Sterbens baut auf einem Fundament der Emotion auf, die sich im Flüsterton entfaltet, im nach sämtlichen Seiten ausgezerrten Gesicht und im Töten ohne Ansprache. Die inhaltsscheuen, sozial übergreifend neutralen, gleichwohl herzzerreißenden Muster dieses Films, in der Tat dutzendfach gesehen, könnte man ihm übel nehmen, wenn Akin nicht eine derart schwärmerische, eine derart unschuldige Ode an die ungebrochene Naturgewalt der anachronistischen Epik gestemmt hätte. Dafür lässt er selbst Charlie Chaplin auf einer errichteten Leinwand glucksen, zappeln, lachen, während seine Zuschauer, verwandelt zu Kindern, glucksen, zappeln, lachen – und Nazaret milde Tränen entweichen, die nach nirgendwo hinfließen.

Meinungen

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