Religion. Sex. Tiere. Menschen. Prostituierte in weißen Leggings. Ein majestätisches Meisterwerk – eine poröse Konferenz der Freude, frei nach René Daumals allegorischem „Le Mont Analogue“. Doch der Magie des Chilenen Alejandro Jodorowsky kann unmöglich nur „Der Heilige Berg“ Rechenschaft genug sein, wie das allzeit mutige Kölner Label Bildstörung auf’s Neue beweist. Unter ihren Fittichen erschienen nun inklusive des Kurzfilms „La Cravate“ aus dem Jahr 1957 die ersten vier innerlich zutiefst verketteten Werke des irren Pantomimen, des Mystikers, Tarotkartenlegers und absonderlichen Meisters bizarr-außerweltlicher Drogenräusche, gebannt auf Celluloid: „Die Filme von Alejandro Jodorowsky“ nennen sie jene Sammlung. Überbordend wie solch eine Box im höchsten Sinne nur sein kann. Selbst an dem mannigfaltigen Bonusmaterial kann man sich kaum satt sehen.

Kino muss dieselbe Kraft haben wie LSD. Es muss ins Unbewusste dringen und einen spirituellen Schock hervorrufen.

Alejandro Jodorowsky

Dabei schuf der Kult-Provokateur später (immerhin erst 1989) mittels „Santa Sangre“ ein nur mäßig anarchisches Werk in surrealen Verzierungen, allein weil in seiner Hysterie und seinem Wahn gleichzeitig ein wesentliches und einseitiges psychosexuelles Abbild austritt: ein persönlicher Reifeprozess im Freud’schen Sinne. In evangelischen Farben und organischen Strukturen kreiert Jodorowsky ein umfassend spirituelles Spektakel. Es bleibt seine einzig völlig umfassende und befriedigende Arbeit, frei von Überlänge und wilden Ausschweifungen. Als gestalterisch und narrativ gefestigtes Drama entzückt und verwirrt „Santa Sangre“ gleichermaßen, wenn auch weiterhin unkonventionell. Wenn es jedoch darum geht, Alejandro Jodorowsky vollends (im Ansatz) verstehen zu wollen, dann muss man notgedrungen in seiner Frühphase buddeln und sich die Fingernägel respektive jedwedes amerikanisches Fast-Food-Konsumverhalten abstoßen. Hinein also in: „Fando und Lis“, „El Topo“ und „Der Heilige Berg“.

Die Filme von Alejandro Jodorowsky

Fando und Lis (1968, Ausführliche Kritik)

Zwei Liebende. Ein Paradies, ein Utopia. Doch ihre Liebe ist unbegreifbar, unantastbar; ihr Weg ein fortwährender Zirkel, eine Illusion. Als Alejandro Jodorowsky sein neo-surrealistisches Debüt „Fando und Lis“ frei nach Fernando Arrabal 1968 in Acapulco erstmals einem Publikum zeigte, lief dieses beinahe Amok, verfolgte den Regisseur, wollte ihn lynchen, als ob sein prekäres Werk sie selbst höchst körperlich und seelisch misshandelt hätte. Schließlich verlor man dreißig Jahre jegliche Ahnung von dieser so archaisch formulierten Skandalösität. Seine Wiederentdeckung und fortwährende Neuinterpretation im Jodorowsky’schen Kanon bleibt dennoch ein wesentlicher Schritt zu dem eigentümlichen Terzett aus den dann folgenden „El Topo“ und „Der Heilige Berg“. Denn „Fando und Lis“ erzählt von einem Ursprung des blasphemischen Lebens aus dem Herzen eines der wohl wahnsinnigsten Provokateure: wie ein Mythos, verwoben auf den Schienen zweier Polynome, welche ihre Maxima mit jeder Ableitung neu definieren.

El Topo (1970, Ausführliche Kritik)

„El Topo“ gliedert sich in Zwischentafeln nach den Büchern der Bibel: Genesis, Propheten, Psalmen, Apokalypse. Wortwörtlich. Nicht wortwörtlich. Selbst dort ist aber eine zarte Natur zu entdecken, eine Romantik neben der Gewalt, welche sie niemals einzunehmen vermag. Als der Sohn plötzlich zurückgelassen wird, nimmt sich auch der Maulwurf wieder des Sexuellen und alsbald zweier Frauen an. Der Sohn aber bleibt zurück in einer rauen und gnadenlosen Welt. Seine folgende Rache scheint eine Folgerung zu sein. Aber vielleicht versteht Alejandro Jodorowsky das Folgende nicht als Schluss, sondern als Wiedergeburt. Es spielt keine Rolle, weil ein jeder Schluss in „El Topo“ wahrscheinlich und unwahrscheinlich ist. Was ist „El Topo“ dennoch, dieser erste aller Midnight Movies? Ein spektakuläres Desaster? Eine Collage fragmentarischer Schockzustände, in einem Tal des psychedelischen Westerns, lose umhüllt von spiritueller Transzendenz und biblischem Subtext über einen Mann und seine falschen Götter? Alejandro Jodorowskys „El Topo“ ist alles und nichts davon.

Der Heilige Berg (1973, Ausführliche Kritik)

Ein schöpferisch-extrovertiertes, narrativ-ausuferndes Enigma ist „Der Heilige Berg“ und stellt natürlich nochmals das Rätsel Jodorowsky infrage: Ist er ein idealistisch-satirischer Weltverbesserer auf LSD? Ein Advokat geistlicher Erlösung in gestalterischer Ekstase? Oder ein heimlicher Scharlatan mit einer Affinität für außerordentlich provokante, doch genüssliche Optiken? Welche Antwort man auch immer für sich selbst auserwählt: Bei diesem seinen überbordenden Trip zum „Heiligen Berg“ ist nun mal jede Interpretation möglich und sinnig. Wer kann schon sagen, welche die richtige ist oder worauf das Werk insgesamt hinausläuft? Vielleicht müssen solche Fragen gar nicht beantwortet werden. Jene wunderliche Reise überhaupt zu unternehmen und zu erleben, ist nämlich schon ein Kraftakt an sich, der in der Filmgeschichte seinesgleichen sucht.

Umsetzung für das Heimkino

Bildstörung at its finest. Nicht nur glänzen die enthaltenen Filme in Original-Kinoformat, sondern „El Topo“ und „Der Heilige Berg“ sogar mittels einer sensationell wiederhergestellten Synchronisation aus längst vergessener Sprecherkultur und beiliegendem Soundtrack. Daneben folgen Audiokommentare von Maestro Jodorowsky höchstselbst, der Dokumentarfilm „Die Konstellation Jodorowsky“, Plaudereien über Tarot, „El Topo“, mit Nicolas Winding Refn (Ziehsohn in spe) und auf dem Filmfest München 2013. Natürlich alles Deutsch untertitelt! Beinahe schon obligatorisch exzellent kommen ebenso zwei Booklets daher inklusive eines Interviews mit Jodorowsky von 1970 und einem Essay von Claus Löser.

Meinungen

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