Der Maulwurf spannt seinen Schirm über sein Haupt und das seines Sohnes. Zugleich breitet sich die Wüste in alle Himmelsrichtungen aus, wie auch die Sonne ihr tiefes Licht zirkulär in den Grund stößt. Beide sind sie nun Männer. Der Mann im gänzlich schwarzen Gewand ebenso wie der Sohn – noch nackt, nur einen beigefarbenen Hut auf dem Kopf. Im Sand ließ er seine Kindheit zurück, vergrub sein erstes Spielzeug und das Foto seiner Mutter. Stattdessen wird Blut, werden Eingeweide, Mord und verrenkte Gliedmaßen von toten und halb toten Männern alsbald sein Schutzmantel sein. Bäche von Blut lösen den trockenen Wüstensand ab. Eine Stadt liegt gemeuchelt danieder. Ein letzter Überlebender stirbt schließlich durch die Hand des Maulwurfs. Doch wer ist dieser El Topo, dieser Maulwurf? Kopfgeldjäger, Gott, Prophet, Schänder? Was ist „El Topo“, dieser erste aller Midnight Movies? Ein spektakuläres Desaster? Eine Collage fragmentarischer Schockzustände, in einem Tal des psychedelischen Westerns, lose umhüllt von spiritueller Transzendenz und biblischem Subtext über einen Mann und seine falschen Götter? Alejandro Jodorowskys „El Topo“ ist alles und nichts davon.

Der Maulwurf sagt: „Ich bin Gott.“ Zugleich duellieren sich Salvador Dalí und Luis Buñuel in einem fellinesk desillusionierten Kampf um Tod und Tod. Denn leben wird schließlich keiner mehr. So lebt auch „El Topo“ in seinen 125 Minuten in wirren Schnitten, unter grässlich atonalen Toneffekten und einer schwerlich erkenn-, lediglich erfahrbaren Handlung. Doch dieses unheitliche, unschöpferische Konstrukt wirkt immer einzigartig, wie die zweitklassige Gegenüberstellung einer unverschämt unsinnigen Verweigerung. Jede Szene führt El Topo näher zu Apathie und Faszination. Jede Szene akzentuiert Apathie und Faszination. Durch „El Topo“ lernt man, eine Banane neu zu teilen. Durch „El Topo“ lernt man, Film und Film unterschiedlich zu sehen. Was ist „El Topo“? Desaster und Kunst. Alles und nichts. Nichts gewollt und alles genommen. „El Topo“ ist ein verkrüppelter, altersschwacher Colonel, ein Mönch und eine Hure; ein Paradigma der Antithesen und eines gescheiterten Antihelden inmitten eines Pseudo-Italowesterns.

Der Maulwurf stirbt. Zugleich stirbt der Maulwurf niemals gänzlich, nur ein Teil von ihm. Als Mann sucht er nach spiritueller Erleuchtung. Alejandro Jodorowsky gönnt diese Erleuchtung allerdings nur jenen, die nicht nach Erleuchtung streben. Stattdessen gönnt er jenen, die nach Erleuchtung streben, Gewalt, Tod, Inzest, Vergewaltigung, Sex, Folter, Perversion und ausreichend geschlachtete Tiere, um ein ganzes afrikanisches Land zu ernähren. Angezogen und abgewiesen. Über 125 Minuten. Dabei zählen Worte bei ihm nicht allzu viel. Doch Religion persifliert Jodorowsky permanent und damit die soziale Hierarchie des dekadenten Strebens der Elite. Doch an Fokus mangelt es ihm noch immer. Erst in „Der Heilige Berg“ werden Objekte und Subjekte einen rhythmischen Wechsel des Gewalttätigen, Religiösen und Erotischen erfahren. „El Topo“ ist eine Blaupause, ein visueller Gewaltakt aus magischer und mystischer Symbolik. Er ist eine Komposition aus Ideen und nicht aus Ereignissen. Und jedes Ereignis ist nichts weiter als eine Tatsache, die sich stetig im Kreis dreht.

Der Maulwurf gräbt und gräbt, bis er die Oberfläche durchbohrt und die Sonne ihr tiefes Licht in seine Augen stößt. Zugleich gräbt und gräbt El Topo ebenso einen Tunnel, wie auch er letztlich gen Ende seiner spirituellen Reise erblindet. Beide sind sie nun eins. Vereint in Rache, Schuld, Macht, Begierde, Stolz, Neid, Ehre, Liebe, fernöstlicher Philosophie und westlicher Christlichkeit. „El Topo“ schafft filmische Offenbarung und filmische Blindheit. Beide sind sie nun irreversibel. Ein Alejandro Jodorowsky endet nie, wie er beginnt, selbst wenn er nichts weiter als ein Kreisel ist. Als El Topo den dritten von vier Meistern tötet, fällt der Körper des Toten in eine Wasserstelle, das Rot seines Blutes vermengt sich mit der undurchsichtigen Blaue des Wassers. Um ihn liegen kurz zuvor lebende und nun ebenso tote Kaninchen danieder. Wenn man einen Jodorowsky erklären könnte, dann mittels dieser Ikonografie des Lebens und des Todes. Alle Wege führen zur Gewalt. Gewalt in „El Topo“ ist gewalttätig. Gewalt und Tod nehmen sich Frauen und Männer gleichermaßen an.

Der Maulwurf leitet sich selbst zu Erkenntnis. Zugleich findet er jedoch keine Erkenntnis, die als Erkenntnis im biblischen Sinne oder überhaupt als Erkenntnis zu erklären wäre. „El Topo“ gliedert sich in Zwischentafeln nach den Büchern der Bibel: Genesis, Propheten, Psalmen, Apokalypse. Wortwörtlich. Nicht wortwörtlich. Selbst dort ist aber eine zarte Natur zu entdecken, eine Romantik neben der Gewalt, welche sie niemals einzunehmen vermag. Als der Sohn plötzlich zurückgelassen wird, nimmt sich auch der Maulwurf wieder des Sexuellen und alsbald zweier Frauen an. Der Sohn aber bleibt zurück in einer rauen und gnadenlosen Welt. Seine folgende Rache scheint eine Folgerung zu sein. Aber vielleicht versteht Alejandro Jodorowsky das Folgende nicht als Schluss, sondern als Wiedergeburt. Es spielt keine Rolle, weil ein jeder Schluss in „El Topo“ wahrscheinlich und unwahrscheinlich ist.

Meinungen

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