Nach knapp 23 Jahren Pause in Sachen Film meldete sich Alejandro Jodorowsky 2013 mit seinem neuen Werk „La Danza de la Realidad“ zurück, einer Adaption seiner recht abstrakten Autobiografie, welche aber dennoch eine klare Essenz zum Verständnis seines Gesamtwerks und natürlich seines persönlichen Wesens darstellt. Darin begegnet man einem jungen Alejandro, welcher im von Krisen geschüttelten Chile der Dreißiger und Vierziger, genauer gesagt in Tocopilla – der kühlen Küstenstadt zwischen den Tälern – aufwächst, die Persönlichkeitsbildung durch Vater und Mutter erlebt, aber als Beobachter mit kindlicher Seele natürlich einen anderen Blickwinkel auf die Situation hat, welcher schon mit Leichtigkeit die surreale Note des Films erklärt: Dinge materialisieren sich scheinbar aus Zauberei, alle Mitmenschen besitzen besonders geprägte Eigenschaften (viele tragen auch gleichgeschaltete Masken und sind im Verlauf dann diejenigen, die sich in angepassten Massen wiederfinden), Farben platzen, Stoffe verselbstständigen sich, Wellen formieren unangekündigt Tsunamis zusammen, beschwören Massen an Fischen und Seemöwen herauf und allesamt geben sich wie selbstverständlich einem augenscheinlichen Zyklus von Leiden und Erlösung hin.

Insbesondere Geld und Blut arbeiten da natürlich im zynischen Einverständnis der Politik miteinander, bauen Leben auf und vernichten es – für jeden Schmerz gibt es aber nun mal auch eine Schönheit; und nirgendwo zeigt sich das deutlicher ab, als bei Alejandros Verständnis von seinem Vater Jaime (Brontis Jodorowsky, der somit seinen eigenen Großvater spielt) und seiner Mutter Sara (Pamela Flores). Er, der kommunistische Patriarch, eingenommen vom idealistischen Hass gegen die Regierung Ibáñez (Bastián Bodenhöfer), strebt nach Härte, beweisbarer Männlichkeit und einem sozialen Gewissen, das dennoch tyrannische Anwandlungen der Selbstbehauptung inne hat und deshalb genauso zum Scheitern verurteilt ist, wie die Diktatoren, gegen die es ankämpft. Sie dagegen ist eine formvollendete Heilige, deren Wort wie himmlischer Gesang in den Ohren Alejandros klingt, Reinkarnation und andere Magien jenseits der blanken, brutalen Realität erstrahlen lässt und ihm stets die Angst (vor der Dunkelheit des Seins) zu nehmen versucht.

Dieser Gegensatz beherrscht von Anfang an die ungewisse Seelenfindung des kleinen Jungen, der von seinem frustriert-engagierten Vater zur kernigen Stärke herausgefordert wird, bevor er ihn überhaupt als Sohn anerkennt und der ihm alles Kindliche zu verdrängen versucht (siehe auch Jodorowskys „El Topo“ und seine Comic-Reihe „Die Kaste der Meta-Barone“), bis hin zum Glauben an höhere, metaphysische Mächte; sprich an die Fantasie: Es gibt keinen Gott, und wenn man stirbt, verrottet man einfach. Denn alles ist Kampf und gegen die brutale Welt da draußen gilt es, sich zu verteidigen – und das, obwohl der Vater ebenso wenig ernst genommen wird, erst recht, wenn er sich noch so bemüht um eine Veränderung der Verhältnisse streitet, aber seiner Umwelt umso feindseliger gegenübersteht. Sein stürmisch-geradliniges Temperament kann gegen die Groteske des Lebens nun mal nicht anhalten, doch Pläne schmieden kann er dennoch mit vollem wütenden Elan.

Alejandro kann in seinem Schatten und dem Versuch der Anpassung dessen nicht mit diesen Eindrücken umgehen, erzeugt auf eigenen Füßen unweigerlich Schwierigkeiten, für die er sich natürlich verantwortlich sieht, die seine Kindlichkeit allmählich verzehren, verachten und verzweifeln lassen. Seine Ratlosigkeit, nicht nur dem Leben, sondern auch dem Tod gegenüber, wird aber doch noch dadurch zum Weitermachen gestützt, da seine Fantasie nicht aufgegeben hat und da ihm auch das Zukünftige in empathischer, universeller Anwesenheit zur Seite steht, ihn vollkommen macht. Ein Ventil dafür zeigt sich auch an der Mutter Sara, die aus der bloßen Hülle ihres Körpers (ein natürlich auch hier recht freizügig behandeltes Motiv in Jodorowskys Werk) die Güte der Erlösung, Heilung und Vergebung ausgeben kann – und sei es auch per Urinstrahl. Sie beherbergt eine erleuchtende Funktion und Lektion – eine von vielen, die auch Jaime im Verlauf des Films zu lernen hat.

Schließlich gedenkt er, den Umsturz der Regierung zu vollziehen, doch in seinen Idealen findet er nicht den konsequenten Entschluss, wird stattdessen ausgerechnet der Stallbursche von Ibáñez und verpasst die Chance, ihn für sein Volk zu richten. Er verfällt in eine paralysierende Starre, seine verkrampften Hände der Handlungsunfähigkeit verfärben sich zur Flagge seines Landes, das sich ebenso starr dem Status quo ausliefern muss. Erst der alte Tischler gibt ihm Bewegung zurück, eine wirkliche Verbindung zum sozialen Gefüge, dem er so inbrünstig helfen wollte – nun aber mit echten Kreationen, handfesten Inspirationen und Mitteln, die ihm aufzeigen, dass es jenseits des Realen Hoffnung und Leben gibt. Und siehe da: Was sich danach für Kräfte in ihm entwickeln, die der Ungerechtigkeit Einhalt gebieten können, zudem noch verbunden mit seinem früheren Mantra des Widerstandes! Dennoch bleibt er als gebrochener erschöpfter Mann zurück. Doch sein Opfer hat hinter den Kulissen für Veränderung gesorgt und in der Zwischenzeit auch seinen Sohn geformt, der für eine lange Zeit die Unbekümmertheit und Liebe seiner Mutter genoss.

Auch wenn Jodorowsky bei jener Wandlung hauptsächlich seine Figur des Vaters porträtiert und ihn auf eine irre Reise durch den Zwiespalt der Willens- und Vorstellungskraft schickt, spiegelt jener Weg die Erkenntnis zur Versöhnung der Lebensauffassung im Sohn sowie auch zum gesamten Heimatland abstrakt und dennoch pointiert wieder. Zudem scheint das Herz dieser persönlichen Erfahrung trotz – beziehungsweise gerade aufgrund – übertriebener Realitätsabbildung äußerst ergreifend durch. Diese individualisierte, fantastisch-schräge Interpretation des Vergangenen beweist nämlich nochmals, dass man den Wahn und die Schönheit der Welt noch klarer erkennen kann, je stärker man sie eigensinnig stilisiert. Es macht sie schlicht greifbarer, intensiver, reizender für denjenigen, der sie auf diese Art vermittelt bekommt – aus den Augen einer mentalen Unschuld und Abergläubigkeit, die das Geschehen an sich und dessen zwangsläufig stattfindendes Entgleiten einfach verarbeiten muss, aber ihre Integrität mit reinem Herzen mutig aufrecht erhält.

Das ist eben auch eine Grundeigenschaft des Künstlers Jodorowsky, die sich aber ebenso mit der eisernen Ambition des Vaters vereint und fortan den reißenden Geist seines Werkes ausgemacht hat. Da entfesselt der Tanz mit der Realität noch bis heute ein loderndes Feuer; doch der Tanz der Realität allein macht sich hier noch stärker bemerkbar, fordert zum wilden, leidenschaftlichen Dance Off auf und lässt alles schließlich in einer festen Umarmung der Tanzpartner für die Ewigkeit münden. Eben eine profunde Erklärung zur Menschlichkeit abseits und doch tief in der Wahrheit verwurzelt – ganz einfach auch ein Film, der zum Schöpfen anregt, mit den Mitteln unseres Erdballs und der Liebe sowie dem Hass unserer Umwelt. Auf jeden Fall eine besondere Erfahrung, die im Kino ihres gleichen sucht, da ist Jodorowksy noch genau derselbe kompromisslose Ultraschöpfer geblieben, der er schon seit jeher war. Leider noch nicht hierzulande erhältlich oder in nächster Zeit auf der Leinwand zu bewundern, aber immerhin als Import auf DVD und Blu-Ray zu erwerben.

Meinungen

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