Endlich gibt es auch Extreme! Während sich die ersten Tage vor allem im Mittelmaß bewegt haben, mit Filmen, die allesamt recht schön anzuschauen waren, sind sie nun da, die großen Enttäuschungen und die großen Überraschungen. Da wäre Gus van Sant, den Wikipedia wunderbar als „Spezialisten für unangepasste Jugendliche und junge Erwachsene“ beschreibt. Vielleicht hätte er lieber dabei bleiben sollen und sich nicht von einem japanischen Park in die Irre treiben lassen. In einem Interview sagt er, dieser Wald habe ihn einfach so fasziniert, dass er einen Film darüber machen wollte, obwohl er dann letztlich – bis auf ganz wenige Szenen – nicht an diesem faszinierenden Ort drehen durfte, sondern auf irgendeinen willkürlichen Wald in Massachusetts ausweichen musste.

Vielleicht ist genau das bereits das Problem an seinem Natur-Familien-Drama „The Sea of Trees“. Denn der Film fühlt sich wirklich an wie ein Film über einen Wald. Dann streift Matthew McConaughey als durchgedrehter Wittwer Arthur Brennan gemeinsam mit seinem imaginären Weggefährten Takumi durch das dichte Gestrüpp, fällt nicht nur einmal einen riesigen Felsen hinunter, sondern überlebt gleicht mehrere Stürze mit nur kleineren Blessuren. Und immer wieder dieser Wald, der so etwas wie das verwilderte Gefühlschaos, das gerade in Arthur herrscht, darstellen soll: Seine Frau, gespielt von Naomi Watts, ist gestorben und er will, kann, möchte ohne sie nicht mehr weiterleben. Deshalb ist er nach Japan geflogen, um sich dort das Leben zu nehmen. Wow, da möchte man gar nicht viel über das, wie gewohnt, solide Schauspiel von McConaughey loswerden, sondern ganz schlicht zugeben: Einen größeren Quatsch hätte sich van Sant wirklich nicht einfallen lassen können.

Da ist es umso schöner, wenn am Tag darauf die wunderbar zynische Gesellschaftssatire The Lobster von Yorgos Lanthimos im Wettbewerb um die Goldene Palme wartet. Es ist eine skurrile Welt, die Lanthimos da kreiert. Ein düsteres Universum, das Menschen auf brutalste Art und Weise in Pärchen und Singles trennt, in Gut und Böse. Der Film lebt vor allem von seinen schrägen Details, die oft wie eine Art Wes-Anderson-Imitat daherkommen, allerdings ohne kunterbunte Pappkulissen, dafür mit einer zynischen Dystopie: In ihr ist es ganz normal, dass ein Kamel, ein Schwein, ein Flamingo durch den Wald spazieren; dann hat sich eben ein Gast im Partner-Börsen-Hotel dafür entschieden, sich in jenes Tier verwandeln zu lassen und dann passt es auch in die Gesellschaft von „The Lobster“. Und genau das ist das Großartige an diesem Film: eine Welt abzubilden, die unserer achso-weltoffenen-Individualistenwelt ziemlich ähnlich ist, aber sehr zugespitzt und verfremdet genau das entblößt, was wir in der Realität noch zu ignorieren versuchen.

Ähnlich faszinierend ist Alice Winocours Drama-Thriller „Maryland“. Die französische Filmemacherin entwirft einen intensiven Trip in das Innenleben eines Soldaten. Vincent (Matthias Schoenaerts) nimmt Beruhigungstabletten, kann nicht ruhig schlafen, hat einen Gehörsturz, leidet an Verfolgungswahn. Ganz schlicht: Er kommt nicht mit dem klar, was er im Krieg erlebt hat. Und jetzt soll er zurück in seiner Heimat als Security Guard für einen stinkreichen Libanesen, der ordentlich Dreck am Stecken hat, arbeiten. Als Zuschauer erleben wir auf der Leinwand das, was Vincent gerade durchmacht – wie die Wut in ihm kocht, wie sich der Schweiß ganz langsam auf seiner Stirn ausbreitet, wie die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit immer stärker wird. Beklemmende Großaufnahmen, pointierte, perfekt getaktete Actionsequenzen verbindet Winocour mit einem ekstatischen Soundtrack. Und am Ende fragt man sich nur noch: Ist das jetzt wirklich alles so passiert oder hat sich alles nur in Vincents Kopf abgespielt?

Ein ebenso intensiver Ritt ist Jeremy Saulniers Exploitationgemetzel „Green Room“ in der Directors’ Fortnight in Cannes. Darin landet eine junge Punkband einen Gig in einer abgelegenen Neonazi-Kneipe, der schnell zu ihrem Albtraum wird. Sie werden ungewollt Zeugen eines Mordes und sitzen nun im Backstage-Raum dieses Bunkers, irgendwo in den Wäldern Oregons, fest. Fuck, es gibt keinen Ausweg! Ihnen bleibt nur der aussichtslose Kampf gegen das Böse, David gegen Goliath – oder besser: eine naive Punkband aus Washington gegen Furcht einflößende Naziherrchen und ihre aufgepeitschte Bulldogge, die einen nach dem anderen zerfleischt. Aufgeschlitzte Arme und Bäuche, weggeschossene Gesichter, zerstückelte Körper. „Green Room“ zelebriert den anarchischen Exzess und endet mit einer urwitzigen Pointe: Welche Band sie mit auf eine einsame Insel nehmen würden? Seriously? – „Who fucking gives a shit.“

Nun ein etwas harter Übergang zu Asif Kapadias Dokumentarfilm „Amy“, der außerhalb des Wettbewerbs in Cannes seine internationale Premiere feiert. Amy Winehouse ist nun bereits vier Jahre tot, man mag es kaum glauben, diese widerspenstige Londonerin mit der rauchigen Jazzstimme. Kapadias Hommage zeigt eine junge Ausnahmekünstlerin, die von Fans und Presse in den Wahnsinn getrieben wurde. Berühmt wollte sie niemals werden, echte Musik, echten Jazz ohne Fake Synthesizer wollte sie immer machen. Dann kamen der Ruhm, der Alkohol und die Drogen, der falsche Mann dazwischen, und es war nicht mehr aufzuhalten, auf was Winehouse in ihren jungen Jahren zusteuerte: ihre Selbstzerstörung. Verwackelte Videos von Amy als pubertierender Teenager, intime Momente mit ihrem Junkiegatten Blake Fielder, erste Konzertaufnahmen und immer wieder Bilder von Amys zahlreichen Abstürzen: besoffen auf der Bühne, zugedröhnt bei Interviews. Daraus macht  Kapadia eine emotionale Bildercollage, die alle von Amys Seiten zeigen möchte.

So kann es weiter gehen, Cannes! Yes, we Cannes.

Besprechungen im Überblick

„The Lobster“ (Ausführliche Kritik)

Der Plot könnte einen leicht erschlagen, wenn Yorgos Lanthimos ihn nicht so liebevoll zynisch inszenieren würde. So lässt er wunderbar seltsame Figuren in einer wunderbar seltsamen Welt umherstreifen. Ben Whishaw spielt einen hinkenden Sonderling, der so ziemlich alles für die Liebe tun würde, wie sich regelmäßig die Nase blutig zu schlagen, nur um eine Gemeinsamkeit mit einer schönen jungen Dame im Hotel zu haben und mit ihr ein Paar zu werden. Denn genau um diese Gemeinsamkeiten geht es in „The Lobster“. Sie führen die Menschen zueinander: Das kann dann Nasenbluten, ein hinkendes Bein sein, ein Sprachfehler oder auch völlige Emotionslosigkeit. Hauptsache es gibt ein weibliches und ein männliches Pendant, ein perfektes Match.

Meinungen

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Kinostart: 16.02.2017

Elle

Paul Verhoeven kehrt zum Wechselspiel der Moral in der humanistischen Rücksichtslosigkeit zurück.

Kinostart: 08.12.2016

Right Now, Wrong Then

Hong Sang-soo parodiert die Macht der Wahrnehmung, indem er sie egoistisch nacherzählt.

Kinostart: 01.12.2016

Die Hände meiner Mutter

Florian Eichinger blickt realitätsbewusst auf die Anatomie und Konsequenzen des Missbrauchs.

Kinostart: 17.11.2016

Amerikanisches Idyll

Ewan McGregors Regiedebüt bemüht nur ein vages und moralinsaures Porträt einer Radikalisierung.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.