Mit Paul Verhoeven auf dessen Comeback „Elle“ anstoßen, bedeutet, neue Erfahrungen des filmischen Angriffs an der eigenen Person zu billigen und zugleich von Szene zu Szene keine Voraussage emotionaler Richtungen treffen zu können. Eine gefährliche Liaison, die man stets in den Narrativen des Niederländers vorfindet, der seine Charaktere auf die Ambivalenz ihrer Sexualität und Körperlichkeit treffen lässt, um in der Vergänglichkeit moralischer Vorgaben im Selbst anzukommen und das Spektrum zwischen Nihilismus und Empathie zu verinnerlichen. Die Umsetzung aber bleibt nie kalkulierbar – und so werden auch hier Pfade bestritten, die eine Welt ohne feste Werte zum Diskurs ihrer selbst anstacheln, ohne sich auf dem Effekt der Provokation auszuruhen. Wirbelwind Verhoeven begibt sich dafür ins Panoptikum des Temperaments, durch das die Extreme im Impuls aufgescheucht werden, im nächsten Moment jedoch Richtung Sarkasmus deeskalieren. Zentral dazu weiß Michèle Leblanc (Isabelle Huppert) die Ereignisse auf jene Art zu verklären, bald jedoch ohne den Hauch von mitleiderregendem Pathos aufzuklären – und das, obwohl der Film mit ihrer Vergewaltigung einsteigt, unbarmherzig von einer Katze beobachtet.

Der Angreifer mit Sturmhaube zieht nach seiner Tat bereits resigniert ab, Michèle nimmt hingegen ein Bad und lässt das Blut im Schaum verschwinden. Die Polizei schaltet sie nicht ein, am Arztbesuch kommt sie aber auch nicht vorbei, obgleich sie ihre hohe Stellung bei einer Videospielfirma in Paris weiterhin unbefangen vertritt. Dass im gegenwärtig entwickelten Game sexuelle Machtfantasien manch Perversion männlicher Kollegen Ausdruck verleiht, stört sie dann auch nicht weiter – der Film will an ihr schlicht nicht die Opferrolle gängiger Thriller festmachen. Stattdessen kristallisiert sich in der Satire heraus, wie wenig sich Verhoeven an einer Genre-Stringenz inklusive Selbstjustiz abzuarbeiten versucht. Der Familienkreis reagiert entsprechend: Sie lieben und hassen sich, giften sich an und rammeln wie Teenager, sind um den sozialen Status bemüht und trotzdem nicht zu Witzfiguren stilisiert. Da gibt es einerseits Ex Richard (Charles Berling), der mit seiner Autorenschaft auf jüngere Frauen abfärbt, aber dennoch eher verschämt cool mit Michèle kommuniziert. Zum anderen Sohnemann Vincent (Jonas Bloquet), der als seliger Trottel mit einer Frau liiert sein will, die ihm stets Vorwürfe macht und nach der Schwangerschaft nicht einmal sein biologisches Kind austrägt – seine unbedingte Liebe zum falschen Filius macht ihn gleichsam närrisch wie aufrichtig.

Dies liegt wohl auch daran, dass Michèles beste Freundin Anna seit jeher mehr wie eine Mutter für ihn war – quasi parallel unterhält Michèle auch eine Affäre mit deren Gatten Robert. Die Verhältnisse der Moderne sind eben wankelmütig, für unsere Protagonistin aber auch voller Frustration. Warum denn auch nicht, wenn der verzerrte Bezug zur Reife schon in der Vergangenheit begründet liegt und am mörderischen Vater jede gesellschaftliche Fügung hinterfragen musste, die im Nachhinein ohne Urteile abließ? Kein Wunder, dass sich Mutter Irène inzwischen ebenso als fingierter Jungbrunnen unter jüngeren Kerlen ausgibt. Ein überwältigendes Netz, das Verhoeven in prägnanten Momenten des mehr oder weniger verschleierten Selbstzweifels aufspannt – und damit noch lange keinen Feierabend macht! Das Mysterium des Whodunit voller falscher Fährten weiß sich nämlich galant durch den Komplex zu ziehen und posttraumatisch mit den Bildern vergangener Mitschuld und der Wechselwirkung sozialer Hierarchien zu verknüpfen. Ungefähr jedes Mal also, wenn Michèle ihr schönes großes Haus betritt, sinkt die Sicherheit mehr, scheint aus jeder dunklen Ecke den Angreifer liefern zu können, während selbst bei Familienfeiern vor Ort untereinander der Zynismus geübt wird.

Verhoeven wandert zwischen den Individuen, wie sich zudem Nervenkitzel und Erdung im inszenatorischen Ballett abklatschen, speziell den Reiz des Eindringens auf privater wie intimer Ebene durch vielerlei Kontexte definieren. Für alle Fantasien und Wahrheiten finden sich hier gemeinsame Nenner, bis man die Furcht per Wink vom Fenster aus einlädt. Die Sterblichkeit wird zum Freund und das Leben zur Last, Wechselwirkungen und Widersprüche bestätigen die Regel. Doch Regeln und Rollen können in Verhoevens Film nicht weniger festgelegt sein, wie auch das angedeutete Spiel mit den Klischees zu Pointen transformiert wird, potenzielle Intentionen des Öfteren ins Gegenteil verkehrt werden, ohne dem Innern des Ensembles dafür die Spannung nehmen zu müssen. Der Menschenkenner am Enthemmen und Selbstbewusstsein des Schocks weiß um die Überflüssigkeit der Kompromisse, weshalb es an Direktheit selten mangelt, an der Erkenntnis kollektiver Geheimnisse aber auch zur Wahrheit ohne Eindeutigkeiten kommt. Das Medium Film kann diese via Überhöhung eben teilweise präziser aussprechen als manch nüchterne Impression, die sich noch auf die Suche nach einer Reflexion begeben muss – und Verhoeven hat als Meister jenes Credos auch in der aktuellen Filmlandschaft kein Stück Kraft eingebüßt.

Meinungen

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